Ausschleusung von zehn DDR-Bürgern
2. März 1973
Information Nr. 196/73 über die Ausschleusung von zehn DDR-Bürgern durch eine Menschenhändlerorganisation nach der BRD
Im Ergebnis der Überprüfungen des MfS handelt es sich bei dem in der Westpresse vom 28.2.1973 publizierten Fall1 des gelungenen ungesetzlichen Verlassens der DDR durch zehn Bürger der DDR2 um folgende Personen:
1. Dr. med. Harasim, Annelies3 geboren [Tag, Monat] 1934, wohnhaft gewesen in Leipzig, Abteilungsärztin in der Kinderklinik des Bezirkskrankenhauses St. Georg, Leipzig, parteilos, Mitglied des FDGB, deren Ehemann
2. Dr. med. Harasim, Horst,4 geboren [Tag, Monat] 1935, wohnhaft gewesen wie oben, Oberarzt in der Infektionsklinik des Bezirkskrankenhauses St. Georg, Leipzig, parteilos, Mitglied des FDGB und deren Kinder
3. [Name 1, Vorname 1], geboren [Tag, Monat] 1960,
4. [Name 1, Vorname 2], geboren [Tag, Monat] 1965, sowie um
5. [Name 2, Vorname 1], geboren am [Tag, Monat] 1941, wohnhaft gewesen in Holzhausen, Kreis Leipzig, [Straße, Nr.], Facharzt für Innere Krankheiten in der Poliklinik [Ort], Landkreis Leipzig, parteilos, Mitglied des FDGB, und dessen Ehefrau
6. [Name 2, Vorname 2], geboren am [Tag, Monat] 1941, wohnhaft gewesen wie Ehemann, Facharzt für Innere Krankheiten in der Poliklinik Leipzig/Südost, parteilos, Mitglied des FDGB.
(Der Vater der [Name 2], Kockel, Bernhard5 geboren am [Tag, Monat] 1909, war Physik-Professor an der Karl-Marx-Universität Leipzig und verließ im Jahre 1961 ungesetzlich die DDR. Gegenwärtig ist er am Physikalischen Institut der Universität Gießen als Professor tätig.)
Bei den anderen Personen handelt es sich um
7. [Name 3, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1955, wohnhaft gewesen in Berlin-Köpenick, [Straße, Nr.], Lehrling für Physiotherapie an der Fachschule für Physiotherapie Berlin-Mitte, Mitglied der FDJ, des FDGB und der DSF,
8. Laszig, Roland6 geboren [Tag, Monat] 1951, wohnhaft gewesen in Berlin-Buch, [Straße, Nr.], Medizinstudent im dritten Studienjahr an der Humboldt-Universität Berlin,
9. Laszig, Reinhard7 geboren [Tag, Monat] 1948, wohnhaft gewesen wie unter 8., Medizinstudent im fünften Studienjahr an der Humboldt-Universität und dessen Ehefrau
10. Laszig, geb. Schubert, Jutta8 geboren [Tag, Monat] 1947, wohnhaft gewesen in Berlin-Pankow, [Straße, Nr.], Medizinstudentin im sechsten Studienjahr an der Humboldt-Universität Berlin.
Der Vater bzw. Schwiegervater der drei vorgenannten Personen, Laszig, Günter,9 ist Chefarzt im Bezirkskrankenhaus Berlin-Weißensee.
Nach den bisherigen Untersuchungsergebnissen wurden die genannten Personen durch eine Menschenhändlerbande10 nach der BRD ausgeschleust.
Im Verlaufe der Untersuchungen wurden Verdachtshinweise auf eine Ausschleusung mittels verfälschter Pässe unter Ausnutzung des Reiseverkehrs über andere sozialistische Staaten; mittels eines zollverschlusssicheren (verplombten) Kraftfahrzeuges, das speziell zu Schleusungszwecken hergerichtet wurde, unter Ausnutzung und Missbrauch des Transitabkommens11 erarbeitet, an deren Überprüfung intensiv gearbeitet wird.
In diesem Zusammenhang wird vom MfS darauf hingewiesen, dass in der letzten Zeit verstärkt Handlungen bestimmter Bürger der DDR festgestellt wurden, vorwiegend mithilfe und Unterstützung von Menschenhändlerorganisationen, aber auch durch persönliche Unterstützung ihrer in der BRD bzw. in Westberlin lebenden Verwandten und Bekannten, die DDR ungesetzlich zu verlassen.
Charakteristisch für die dabei in Erscheinung getretenen Personen und Personenkreise ist ein verhältnismäßig hoher Anteil beruflich hochqualifizierter Bürger (besonders Ärzte, medizinisch-technisches Personal, Diplom-Ingenieure, Ingenieure, Lehrer an EOS und Studenten an Universitäten).
Im Zeitraum vom 1.1.1973 bis 28.2.1973 wurden durch das MfS 3812 Bürger der DDR festgenommen, die unter größtenteils direkter Beteiligung von Menschenhändlerbanden versucht hatten, die DDR ungesetzlich zu verlassen.
Durch das MfS wurden ferner im Zeitraum vom 1.1.1973 bis 28.2.1973 insgesamt 1613 Bürger der BRD, anderer nichtsozialistischer Staaten und Westberlins festgenommen, die überwiegend im Auftrag von Menschenhändlerbanden versuchten, Bürger der DDR über die Transitwege nach der BRD bzw. Westberlin auszuschleusen.
Die bisher dazu vorliegenden Untersuchungsergebnisse lassen erkennen, dass professionelle Menschenhändlerbanden und andere gedungene Elemente, die größtenteils aus Gewinnsucht handeln, große Anstrengungen unternehmen, um umfangreiche Ausschleusungen von DDR-Bürgern zu organisieren und durchzuführen.
Besondere Aktivitäten entwickelten in der jüngsten Zeit die in Westberlin ansässigen und mit Duldung und Unterstützung staatlicher Dienststellen wirkenden Menschenhändlerorganisationen Herschel,14 Fuchs,15 Jensch,16 Dawid,17 Wordel18 und Löffler19 sowie das von Zürich aus operierende Menschenhändlerunternehmen Caropa-AG.20 Für derartige Schleusungsvorhaben erhalten die Schleuser von ihren Auftraggebern in Westberlin bzw. in der BRD »Kopfprämien« bis zu 20 000 DM.
Die Menschenhändlerbanden und deren Helfershelfer wenden ständig neue, raffiniert getarnte und hinterhältige Mittel und Methoden an, um das auf der Grundlage des Transitabkommens praktizierte erleichterte und vereinfachte Kontroll- und Abfertigungsregime an den Grenzübergangsstellen der DDR zu missbrauchen bzw. um unter Ausnutzung des Reiseverkehrs nach anderen sozialistischen Staaten, besonders mittels des sogenannten Passabtausches,21 die Kontrollorgane der sozialistischen Staaten zu täuschen und die Sicherungsmaßnahmen zu unterlaufen.
Hinsichtlich der Ausnutzung des Transitabkommens erfolgen dabei gegenwärtig besonders Handlungen und Versuche der Organisierung und Durchführung von Schleusungen in zollverschlusssicher eingerichteten Kraftfahrzeugen.22
In diesem Zusammenhang wurde beispielsweise folgendes raffinierte gegnerische Vorgehen bekannt:
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In Kraftfahrzeugen werden durch Einziehen von Trenn- und Zwischenwänden Hohlräume geschaffen und getarnt, in welchen Personen untergebracht werden können,
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Kraftfahrzeuge, die zollverschlusssicher eingerichtet sind, werden mit automatisch zu verschließenden Türen bzw. Wänden versehen, hinter denen Personen versteckt befördert werden können, wobei Spezialbehandlungen nach dem Zusteigen von Personen diese Verstecke zusätzlich gegen jeden Verdacht absichern,
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zollverschlusssicher eingerichtete Spezial-Lastkraftwagen, die gefährliche Güter im Transitverkehr transportieren (z. B. Bitumen) erhalten Hohlräume zum Versteck von Personen,
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auf den Transitstrecken23 werden zur Beförderung der zur Schleusung vorgesehenen DDR-Bürger mehrere Kraftfahrzeuge eingesetzt, werden polizeiliche Kennzeichen gefälscht und gewechselt und wird von den Transitstrecken abgewichen, um die Kontrollorgane der DDR zu täuschen.
Darüber hinaus arbeiten die Menschenhändlerbanden unverändert
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mit den verschiedenartigsten Methoden der Fälschung von Personal- und anderen Grenzübertrittsdokumenten,
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missbrauchen den Status kontrollbefreiter Personen und Kfz (Diplomaten, Angehörige der US-Besatzer in Westberlin),
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und arbeiten darüber hinaus skrupellos mit kriminellen Mitteln und Methoden, insbesondere mit Drogen zur Betäubung von Personen (Kindern) ohne Rücksicht auf die Gefährdung von Leben und Gesundheit.
Bei der Ausschleusung über andere sozialistische Staaten wenden Menschenhändlerbanden vielfältige Methoden der Fälschung von Pass- und Grenzübertrittsdokumenten an. Zur Realisierung, besonders des Passabtausches, verwenden sie u. a.
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ge- und verfälschte Reisepässe der BRD,
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fingierte Diplomatenpässe,
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gefälschte Reiseanlagen für DDR-Bürger.
So wurden am 25.2.1973 durch das MfS im Zusammenwirken mit den Sicherheitsorganen der VR Ungarn nachfolgend genannte DDR-Bürger auf dem Flughafen in Budapest festgenommen, als sie versuchten, ungesetzlich die DDR zu verlassen:
Dr. Richter, Eckart,24 geboren [Tag, Monat] 1940, wohnhaft 111 Berlin, [Straße, Nr.], Deutsche Akademie der Wissenschaften Berlin-Buch, Robert-Rössle-Klinik als Röntgenarzt, seine Ehefrau Richter, geborene [Name 4, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1941, beschäftigt gewesen als medizinisch-technische Assistentin, deren drei Kinder (zwölf, sechs und vier Jahre alt), Dr. Richter, Jürgen,25 geboren [Tag, Monat] 1937, wohnhaft 1055 Berlin, [Straße, Nr.], Deutsche Akademie der Wissenschaften Berlin-Buch als Klinikphysiker, seine Ehefrau Richter, geborene Olschner, Dagmar,26 beschäftigt gewesen als biologisch-technische Assistentin, und deren Kinder (neun und vier Jahre alt), sowie [Name 5, Vorname 1], geboren [Tag, Monat] 1947, wohnhaft [Straße, Nr.], Kameraassistent beim DFF, seine Ehefrau [Name 5, Vorname 2], geborene [Name 6], Lehrerin in Sacka, Kreis Großenhain.
Außerdem wurde zugleich die als Kurier tätig gewesene BRD-Bürgerin [Name 7, Vorname], festgenommen.
Die Ausschleusung sollte mit der Methode des sogenannten Passabtausches erfolgen. Zu diesem Zweck erhielten die vorgenannten DDR-Bürger auf dem Flug von Prag nach Budapest durch den Kurier speziell für sie vorbereitete Reisepässe der BRD, mit denen sie legal in die Ungarische Volksrepublik einreisen sollten, um dann als »BRD-Bürger« ungehindert in ein kapitalistisches Land weiterreisen zu können.