Auswertung der Flucht von Medizinern
28. August 1973
Information Nr. 857/73 über Vorschlag zur Durchführung einer Versammlung zur Auswertung des ungesetzlichen Verlassens der DDR von Ärzten und medizinischem Personal aus dem Städtischen Krankenhaus Berlin-Friedrichshain
Der Vorschlag zur Durchführung einer Versammlung im Städtischen Krankenhaus Berlin-Friedrichshain wird aufgrund des gefährlichen Schwerpunktes, der sich dort durch vermehrte Republikfluchten von Ärzten und medizinischem Personal entwickelt hat, und auf der Grundlage der derzeit möglichen Auswertung bisheriger Untersuchungs- bzw. Ermittlungsergebnisse unterbreitet. Bei diesem Vorschlag wird mit davon ausgegangen, die Möglichkeit und Zweckmäßigkeit weiterer Maßnahmen vor allem auf publizistischem Gebiet zu prüfen.
Seit Oktober 1972 haben insgesamt 18 Ärzte und fünf Krankenschwestern bzw. medizinisch-technische Assistenten des Krankenhauses Berlin-Friedrichshain ungesetzlich die DDR verlassen.
Die bisherigen Untersuchungen ergaben, dass die Mehrzahl dieser Personen durch Menschenhändlerorganisationen1 geschleust wurde.
Eine Reihe Versuche des ungesetzlichen Verlassens der DDR durch weitere Ärzte wurde verhindert. Drei im Auftrage von Menschenhändlerorganisationen tätige Schleuser wurden festgenommen. Zwei Ärzte traten von sich aus selbsttätig von ihrem Vorhaben, die DDR ungesetzlich zu verlassen, zurück.
Bei dem genannten Personenkreis – außer den Schleusern – handelt es sich um qualifiziertes medizinisches Personal vor allem aus den Bereichen Chirurgie, Urologie/Nierentransplantationszentrum, Anästhesie und Gynäkologie.
Dadurch ist im Krankenhaus Friedrichshain eine schwierige Arbeitskräftesituation entstanden, die, zusammenhängend damit, höhere persönliche Belastungen, Unruhe und Missstimmung unter den Beschäftigten auslöste und eine erhebliche Beeinträchtigung der medizinischen Betreuung und Versorgung der Bevölkerung zur Folge hat.
Die vorgeschlagene Versammlung sollte im Krankenhaus Friedrichshain mit einem ausgewählten Personenkreis wie z. B.
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Ärztlicher Direktor Parteileitung2
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Mitglieder der Ärztlichen Direktion (Chefärzte)
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Kaderleiter
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Vorsitzende der BGL
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FDJ-Sekretär
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Leiter der ABI3 und
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Verwaltungsdirektor
durchgeführt werden. Die Zielstellung müsste darin bestehen, die Aufmerksamkeit und das klassenmäßige Verständnis der Parteifunktionäre, der staatlichen Leiter sowie der Funktionäre gesellschaftlicher Organisationen des Krankenhauses stärker auf folgende Probleme und Zusammenhänge zu lenken:
Entlarvung
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der politischen Hintergründe der skrupellosen Abwerbung und Ausschleusung durch die Menschenhändlerorganisationen,
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der dabei zutage tretenden Rolle Westberliner und westdeutscher politischer und staatlicher Organe,
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der Versuche zum Unterlaufen und Missbrauch des Transitabkommens,4
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des zielgerichteten Vorgehens gegen das Gesundheitswesen der DDR und der speziellen Tätigkeit gegen das Krankenhaus Friedrichshain.
Diese Darlegungen sollen vor allem mit der Zielstellung erfolgen, die Basis für eine verstärkte politisch-ideologische Offensive durch Parteiorganisation und staatliche Leitung des Krankenhauses zu erweitern, um insbesondere noch vorhandene politisch-ideologische Unklarheiten bei einer Reihe von Mitarbeitern des Krankenhauses Friedrichshain hinsichtlich der Wirkung feindlicher Angriffe zu überwinden.
Weiter könnte diese Veranstaltung genutzt werden, solche Probleme darzulegen, die begünstigend für die feindlichen Angriffe wirken und durch die Leitung des Krankenhauses selbstständig und kurzfristig beseitigt werden sollen.
In Anbetracht der großen politischen Bedeutsamkeit des gesamten Problems sollte das Ministerium für Gesundheitswesen der Träger dieser Veranstaltung sein, wobei der Minister, Genosse Professor Dr. Mecklinger,5 möglichst selbst grundsätzliche Ausführungen machen und auch für das Schlusswort verantwortlich zeichnen müsste.
Neben dem vorgeschlagenen Teilnehmerkreis wäre zu erwägen, dass auch der Generalstaatsanwalt von Groß-Berlin mit einem entsprechenden Beitrag auftritt und die zurzeit für die Öffentlichkeit auswertbaren Tatsachen der feindlichen Angriffe gegen das Krankenhaus Friedrichshain darlegt.
In der Versammlung können anhand von Tatsachen
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die zielgerichtete Abwerbung und Ausschleusung von Ärzten des Krankenhauses Berlin-Friedrichshain,
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die dabei zutage getretene Linie des Vorgehens der Menschenhändlerorganisationen und die von ihnen angewandten raffinierten und skrupellosen Methoden
nachgewiesen werden. Das soll vor allem durch die Darlegung auswertbarer Tatsachen aus Ermittlungsverfahren geschehen, die gegen den im Krankenhaus Friedrichshain als Gynäkologen beschäftigten bulgarischen Arzt Dr. Anton Georgieff6 und seine Ehefrau (DDR-Bürgerin), [Vorname Name 1] sowie gegen die Angehörigen Westberliner Schleuserorganisationen [Vorname Name 2]7, [Vorname Name 3]8, [Vorname Name 4]9 eingeleitet wurden.
Hinsichtlich der Praktiken und Methoden der Menschenhändlerorganisationen, die nachweisbar bei der erfolgten bzw. versuchten Abwerbung und Schleusung von Ärzten des Krankenhauses Berlin-Friedrichshain angewandt wurden, sollen – um einige Fakten beispielhaft und stichwortartig anzuführen – hervorgehoben werden:
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Überfallartiges Überraschen der Abwerbungskandidaten und Versprechen guter Entwicklungs- und Verdienstmöglichkeiten, sofortiger Bankkredite, einer Wohnung usw.;
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Beeinflussung durch bereits geschleuste »Berufskollegen« (Überbringen von Grüßen und Bekräftigung der Versprechungen) bzw. Ausnutzung entsprechender Verbindungen zur Gewinnung weiterer Schleusungskandidaten;
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Versprechen der »kurzfristigen und risikolosen« Ausschleusung;
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Einbeziehung der für die Ausschleusung vorgesehenen Personen in Machenschaften der Menschenhändlerorganisationen, um sie »in der Hand zu haben« sowie Einschüchterung, Erpressung und Drohung (teilweise auch Hervorrufen von Unsicherheit durch anonyme Anrufe);
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Ausnutzung geschleuster Personen durch die im Rahmen des Notaufnahmeverfahrens tätigen Geheimdienste (Spionageinformationen und Ansatzpunkte für weitere Abwerbungsaktionen) und damit gleichzeitig Ausübung von Druck zur Verhinderung ihrer Rückkehr.
Weiter sollen in diesem Zusammenhang – neben der Erläuterung des Tatbestandes § 105 StGB (Staatsfeindlicher Menschenhandel)10 – speziell Gesichtspunkte des Vorgehens des Schleusers (und Rauschgifthändlers und selbst Rauschgiftsüchtigen) [Name 2] dargelegt werden.
[Name 2] hat [Name 5] und seine Familie ausgeschleust, unternahm mehrere weitere erfolglose Abwerbungsversuche und wurde bei der versuchten Ausschleusung einer Ärztin aus dem Bezirk Frankfurt/Oder auf frischer Tat gestellt.
Die Ausführungen über die vorstehenden Tatsachen, besonders durch den Generalstaatsanwalt von Groß-Berlin, werden durch das Auftreten der Ärzte [Name 6] und Dr. Braun11 überzeugend bekräftigt.
[Name 6] war Chirurg am Krankenhaus Friedrichshain, trat selbsttätig vom Versuch der Ausschleusung zurück und ist bereit, aufgrund eigenen Erlebens die verbrecherischen Praktiken der Menschenhändlerorganisationen darzulegen.
Im Zusammenhang mit [Name 6] wird der Generalstaatsanwalt eine Erläuterung zu den §§ 25 (Absehen von Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit)12 und 111 StGB (Außergewöhnliche Strafmilderung und Absehen von Strafe)13 geben, um damit die in unserem Strafrecht bestehende Möglichkeit hervorzuheben, bei umfassenden wahrheitsgemäßen Aussagen und Bereitschaft zur Wiedergutmachung Straffreiheit zu gewähren.
Dr. Braun ist Oberarzt der Abteilung Urologie im Krankenhaus Friedrichshain. Er ist in der Lage und dazu auch bereit, die durch eigene Erfahrungen bei der Entlarvung der Menschenhändlerorganisationen gewonnenen Erkenntnisse über deren verbrecherische Mittel und Methoden darzulegen.
Außerdem liegt ein Brief einer nach der BRD republikflüchtig gewordenen Ärztin vor, aus dem hervorgeht, wie sehr sie diesen Schritt bereut, welche große psychologische Belastung und inneren Konflikte ihr daraus erwachsen sind. Dieser Brief kann mit zur Verlesung kommen.
Es wäre weiter die Zweckmäßigkeit zu prüfen, vorher unter Hinzuziehung von Vertretern der SED-Bezirksleitung einem eng begrenzten Personenkreis (z. B. Parteisekretär, Ärztlicher Direktor, Kaderleiter) Zweck und Inhalt der vorgesehenen Veranstaltung näher zu erläutern, damit von ihnen Einfluss auf einen erfolgreichen Versammlungsverlauf genommen werden kann, insbesondere, um wirkungsvoll die spezifischen Bedingungen im Krankenhaus Friedrichshain, die Psyche der Ärzte und des medizinischen Personals zu berücksichtigen.
Es wird gebeten, über die Durchführung dieser politisch bedeutsamen Veranstaltung, den dargelegten wesentlichen Inhalt und eine entsprechend zweckmäßige Auswertung sowie über dazu notwendige Maßnahmen eine Entscheidung herbeizuführen und einen Verantwortlichen zu bestimmen, mit dem die Vorbereitung, die Erarbeitung der notwendigen Materialien und alle Fragen der Realisierung so abgestimmt werden können, dass das MfS in Durchführung dieser Veranstaltung nicht offiziell in Erscheinung tritt.