Begründung der »Direktive über Geheimnisträger«
[ohne Datum]
Ausführungen zur Begründung der »Direktive über Geheimnisträger« (Sitzung des Ministerrates am 18.4.1973) [Bericht K 2/44]
Die vorliegende Direktive über Geheimnisträger findet meine volle Zustimmung.1
Ausgehend von den durch unsere Tätigkeit gewonnenen Erkenntnissen über die Pläne und Aktivitäten des Feindes muss klar und eindeutig eingeschätzt werden:
Die feindlichen Zentralen,2 Institutionen und Kräfte unternehmen die größten Anstrengungen, um in Anpassung an die neuen Bedingungen3 die Wirksamkeit ihres Vorgehens, besonders gegen die DDR, zu erhöhen. Klar und nüchtern muss gesehen werden, dass die Spionage und andere subversive Tätigkeit in größerer Breite weitaus raffinierter und häufig geschickt getarnt organisiert werden.
Besonders im Zusammenhang mit der in der letzten Zeit erfolgten Festnahme von Spionen und anderen Personen, die der Gegner für seine Zwecke missbrauchen konnte, wurde deutlich, dass es hinsichtlich der Ziele und Absichten der gegen unsere Republik wirkenden Organe und Institutionen, vor allem der BRD, keine Illusionen geben darf.
Neben den vielfältigen Aktivitäten, politische und militärische Geheimnisse in Erfahrung zu bringen und vor allem auch Ergebnisse unserer wirtschaftlichen bzw. wissenschaftlich-technischen Entwicklung auszuspionieren und dem Monopolkapital nutzbar zu machen, haben wir es auch mit verstärkten Versuchen zu tun, in neuralgische Punkte unserer Volkswirtschaft einzudringen und politisch-ideologisch den Boden dafür vorzubereiten.
Es gibt viele Fakten, die die Absicht, besonders der BRD-Seite verdeutlichen, langfristig und systematisch in der DDR selbst Bedingungen zu schaffen, vor allem in personeller Hinsicht, die den feindlichen Interessen zumindest entgegenkommen. Darin ist auch die Absicht eingeschlossen, von der BRD aus unsere wirtschaftliche Entwicklung in wichtigen Bereichen und in bestimmtem Umfang (gewissermaßen auf Umwegen) im Sinne der Bonner Ziele mit zu steuern und zu lenken, Abhängigkeiten zu schaffen und gleichzeitig über die DDR in den RGW-Bereich hineinzuwirken.
Dabei geht es nicht nur schlechthin um Maßnahmen einzelner Organe, Institutionen, Konzerne usw., obwohl es solche Einzelaktionen auch gibt. In der Regel geht es jedoch um aufeinander abgestimmte Aktivitäten – von offiziellen staatlichen Organen, über Geheimdienste und Zentren der politisch-ideologischen Diversion,4 bis zu Konzernen und anderen Wirtschaftsunternehmen.
Dieses abgestimmte Vorgehen zeigt sich besonders deutlich bei der Suche von Ansatzpunkten für ihr Vorgehen. Und nach unseren Erfahrungen gehören zu solchen Ansatzpunkten bestimmte Schwierigkeiten und Engpässe, ungeklärte Probleme, unterschiedliche Auffassungen und Vorstellungen über Probleme der wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Entwicklung, das Fehlen klarer Entscheidungen und vieles andere mehr.
Das sind nur einige Gesichtspunkte von vielen, die es im Interesse der konsequenten Durchsetzung der heute zu beschließenden Direktive mit zu beachten gilt. Ich führe sie an, weil sie verdeutlichen, warum und mit welchen Absichten sich feindliche Kräfte in starkem Maße auf Geheimnisträger konzentrieren, besonders auf Personen, die einen guten Überblick und bestimmten Einfluss haben. Häufig sind es auch Personen, die aufgrund ihrer Tätigkeit mit Kräften aus dem Lager des Gegners in Kontakt kommen.
Bekanntlich können feindliche Organe und Institutionen meistens nur dann wirksam werden, wenn sie in unserer Republik Menschen finden, die dazu beitragen, feindliche Absichten in die Tat umzusetzen, oder die dazu erforderlichen Ansatzpunkte, meistens geheim zu haltende Fakten, für feindliche Aktivitäten preisgeben.
Allgemein kann eingeschätzt werden, dass in staats- und wirtschaftsleitenden Organen, in Kombinaten, Betrieben und anderen Einrichtungen wesentliche Fortschritte bei der Durchsetzung von Sicherheit und Ordnung, besonders auch auf dem Gebiet des Geheimnisschutzes, erreicht wurden. Aber wir können noch nicht damit zufrieden sein. Es gibt noch relativ viele Verstöße gegen Geheimhaltungsbestimmungen. Wir müssen uns daher von dem Grundsatz leiten lassen, dass jedes einzelne Vorkommnis zu viel ist.
Wir stellen immer wieder fest, wie der Gegner systematisch, langfristig und psychologisch raffiniert die ihn interessierenden Menschen bearbeitet, testet und beeinflusst. Er sucht Ansatzpunkte, Kontaktmöglichkeiten, und er nutzt alle sich ihm bietenden Gelegenheiten aus, um bestimmte Personen allmählich und Schritt für Schritt in seine Machenschaften einzubeziehen. Seine eigentlichen Absichten sind häufig nur schwer erkennbar und nachweisbar.
Es zeigt sich immer wieder, dass die Ansatzpunkte, die der Gegner sucht, um an die Menschen heranzukommen, sehr vielseitig sind, im Wesen aber auf die nicht gefestigte politische Grundhaltung dieser Menschen zurückgeführt werden müssen.
Bei der breiten Palette dieser Ansatzpunkte handelt es sich – einige Stichworte dürften genügen –
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um feindliche Einstellung oder politisch schwankende Haltung, Widersprüche zwischen der eigentlichen politischen Einstellung und der nach außen demonstrierten, politischen Haltung;
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um Egoismus, Anfälligkeit für Korrumpierung, Labilität, leichte Beeinflussbarkeit und moralische Schwächen,
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aber auch Selbstüberschätzung, starkes Geltungsbedürfnis und Prahlsucht, Schwatzhaftigkeit, Vertrauensseligkeit, Sorglosigkeit und mangelnde Wachsamkeit.
Wir mussten beispielsweise zwei leitende Direktoren des Fotochemischen Kombinates Wolfen5 inhaftieren, die ihre DDR-feindliche und antisowjetische Einstellung durch überbetont progressives Auftreten nach außen gut zu tarnen verstanden.6 Sie arbeiteten systematisch darauf hin, wichtige Potenzen unserer wirtschaftlichen Entwicklung auszuschalten. Sie verrieten dem Gegner wichtige Entwicklungs- und Forschungsergebnisse, täuschten unsere Außenhandelsorgane, verursachten unnötige Importe aus der BRD, ließen sich korrumpieren und besorgten insgesamt Geschäfte von IG-Farben-Nachfolgekonzernen.
In solchen Fällen hat der Gegner relativ leichtes Spiel. Er bedient sich aber auch immer stärker der Methode der Abschöpfung über andere Personen einschließlich über Verwandte und Bekannte. Diese Methode wendet der Gegner vor allem auch gegenüber solchen Personen an, von denen er aufgrund ihrer politischen Einstellung und Haltung annimmt, dass sie sich nicht so ohne Weiteres für seine Machenschaften ausnutzen lassen, die aber gegenüber anderen Personen, die sich gut zu tarnen verstehen, vertrauensselig sind.
Alles bisher Gesagte verdeutlicht, dass es – ohne an der Richtigkeit der Festlegungen über Reisebeschränkungen, Besuchsempfang und postalische Verbindungen der Geheimnisträger irgendwelche Abstriche zu machen – besonders darauf ankommt, die in der Direktive festgelegten Pflichten der Geheimnisträger und die Erziehungsaufgaben konsequent zu verwirklichen. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, noch vorhandene Mängel und Missstände bei staats- und wirtschaftsleitenden Organen, durch die mitunter Feindtätigkeit bzw. andere, die DDR schädigende Tätigkeit begünstigt werden, zu überwinden. Wir mussten solche Erscheinungen erst kürzlich im Ergebnis der Untersuchung gegen zwei Wissenschaftler und Spezialisten feststellen, die auf dem Gebiet der Erzeugung hochwertiger Eiweißnahrungsmittel und Eiweißfuttermittel unserer Republik einen beträchtlichen Schaden zugefügt haben.7
Die Verwirklichung der Grundsätze der von uns zu beschließenden Direktive, insbesondere ihres ideologischen Gehaltes, erfordert die volle Wahrnehmung der Verantwortung aller Leiter, von den Ministern bis zu den Leitern der Betriebe und Einrichtungen bei der Durchsetzung der sich daraus ergebenden Aufgaben.
Jeder Leiter muss sich seiner hohen Verantwortung im Klaren sein; er muss wissen, dass seine Entscheidungen zur Durchsetzung dieser Kriterien nicht schlechthin administrative Maßnahmen, sondern politische Entscheidungen sind.
Sie müssen sowohl durch hohe Sachlichkeit charakterisiert sein als auch – und das in verstärktem Maße – unter Beachtung der jeweiligen politischen Situation, unter Berücksichtigung der sicherheitspolitischen Interessen unseres Staates, und der gründlichen Kenntnisse über die Persönlichkeit der Geheimnisträger getroffen werden.
Dabei kommt es für die Leiter darauf an, sich auf die Kraft und die Kenntnisse der Kollektive zu stützen, die gesellschaftlichen Möglichkeiten zu nutzen, bis hin zu den Potenzen der Sicherheitsbeauftragten.8
Die Verantwortung der Leiter erstreckt sich bekanntlich von der Neubestimmung des Kreises der Geheimnisträger bis hin zur politisch-ideologischen Arbeit mit ihnen und bis zur Realisierung des Verfahrens für die Genehmigungs- und Meldepflicht hinsichtlich von Reise, Besuchen und Kontakten mit Personen aus dem nichtsozialistischen Ausland.
Bei der Neubestimmung des Kreises der Geheimnisträger kommt es nach unseren Erkenntnissen darauf an, ausgehend von den sachlich, präzis festgelegten Staatsgeheimnissen, die Personen exakt auszuwählen, die tatsächlich Umgang mit diesen Staatsgeheimnissen haben müssen. Dabei sind von den Leitern, im Bestreben nach verstärkter Wachsamkeit, Ordnung und Sicherheit, hohe Anforderungen an die Geheimnisträger zu stellen, insbesondere hinsichtlich ihres Staatsbewusstseins und ihrer Treue zum Staat. Gerade der Charakter der Staatsgeheimnisse erfordert zu wissen, auf welche Personen man sich verlassen kann, wer seine Persönlichkeit in den Dienst unserer Sache stellt, d. h. wem man Staatsgeheimnisse anvertrauen kann.
Natürlich ist mit der neuen, präziseren Festlegung des Kreises der Geheimnisträger auf der Grundlage der Prinzipien und Kriterien der Direktive – auch wenn wir damit neuen Bedingungen besser Rechnung tragen – noch nicht der umfassende Schutz der Staatsgeheimnisse und auch der Geheimnisträger gewährleistet.
Das ist eine ständige, tägliche Leistungsaufgabe. Einen wesentlichen Schwerpunkt in diesem Zusammenhang bildet die politisch-ideologische Arbeit mit den Geheimnisträgern, um den gesamten Erziehungsprozess zu qualifizieren, insbesondere zur Erfüllung der den Geheimnisträgern in der Direktive übertragenen Pflichten.
Es muss die Aufgabe der Leiter sein, ein solches Vertrauensverhältnis zu den Geheimnisträgern herzustellen, das erlaubt, alle Probleme der Geheimnisträger sachlich, im Interesse des Staates und der Geheimnisträger zu lösen.
Die Wahrnehmung der Verantwortung der Leiter bezieht sich deshalb auch auf die gewissenhafte Entscheidung über Kontakte und andere Beziehungen der Geheimnisträger zu Personen aus nichtsozialistischen Staaten und Westberlin entsprechend den differenzierten Festlegungen in der Direktive.
Dabei wird insbesondere bewiesen werden müssen, inwieweit ein echtes Vertrauensverhältnis zwischen den Geheimnisträgern entwickelt wurde, auf dessen Grundlage die Leiter solche Kenntnisse über die Geheimnisträger und ihre Kontakte und Beziehungen erhielten, die mit dazu beitragen, politisch richtige Entscheidungen zu treffen.
Insbesondere für diesen Entscheidungsprozess ist eine enge, kameradschaftliche Zusammenarbeit aller staatlichen Leiter mit den zuständigen Organen des MfS notwendig. Die Zusammenarbeit muss als zweiseitige Gestaltung der Beziehungen aufgefasst und praktiziert werden.
Sie wird dem Leiter die Möglichkeit bieten, seine Entscheidungen fundierter zu treffen, und erfordert jedoch auch von ihm, alle im Zusammenhang mit den Geheimnisträgern relevanten Informationen den zuständigen Organen zugänglich zu machen.
Ich möchte zusammenfassend dazu sagen:
Je besser alle staatlichen Leiter ihrer hohen Verantwortung im Zusammenhang mit der Realisierung der Direktive über die Geheimnisträger gerecht werden, umso besser werden die Staatsgeheimnisse geschützt.