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Bekennende Evangelisch-Lutherische Kirche Sachsens

15. November 1973
Information Nr. 1172/73 über Äußerungen Bischof Fränkels/Görlitz auf einem Gemeindeabend der Bekennenden Evangelisch-Lutherischen Kirche Sachsens in Dresden

Am 8.11.1973, um 19.30 Uhr, fand in der Dresdener Annenkirche ein Gemeindeabend der Bekennenden Evangelisch-Lutherischen Kirche Sachsens1 statt, der dem 40. Jahrestag des Beginns des Kirchenkampfes 1933 bis 1945 gewidmet war.2

Im Auftrag des Landesbruderrates der Bekennenden Kirche hielt Bischof Fränkel3 einen Vortrag zum Thema: »Was haben wir aus dem Kirchenkampf gelernt?«4

An der Veranstaltung nahmen ca. 320 bis 350 vorwiegend ältere Personen teil, davon 150 Theologen sowie zehn Mitglieder einer Abordnung des Dresdener Diakonissenhauses. Die übrigen Personen waren vornehmlich Vertreter handwerklicher Berufe und der Intelligenz.

In Vorbereitung dieses Gemeindeabends hatte es vonseiten der Sächsischen Landeskirche Gespräche mit Bischof Fränkel gegeben, wobei dieser aufgefordert worden war, in seinem Vortrag keine politischen Provokationen zu unternehmen.

Während seines Vortrages führte Fränkel u. a. Folgendes aus:

Im Zeitalter der Wissenschaft und Technik sei der Weltfrieden eine dringende Notwendigkeit geworden.

Er möchte in seinem Vortrag aber nicht von politischen Wandlungen sprechen. In der Welt stünden sich heute »sozialistische Weltanschauungsstaaten« und »Demokratien des Westens« gegenüber. Nach 1945 sei die Volkskirche zusammengebrochen, eine »innere Erneuerung« der Menschen habe es nicht gegeben und die »Spaltung unseres Volkes«. Die Kirche bestehe heute in einer atheistischen Umwelt. Dass sie in dieser Umwelt nicht untergehe, habe sie im Kirchenkampf gelernt; dafür sei die Barmer Erklärung5 auch heute noch gültig.

Der Kirche werde eine »unwissenschaftliche Welterklärung« unterstellt. Die Ergebnisse der modernen Wissenschaft würden zur atheistischen Welterklärung benutzt. Aber Gott stehe über allen Wissenschaften und Weltbildern – auch über Karikaturen von Weltbildern. Die »Ideologisierung der Wissenschaft« führe sie zur Unfreiheit.

Die Mitglieder der Bekennenden Kirche könnten meinen, sie wären Antifaschisten. Dann wären sie aber einer Ideologie verfallen.6 Wenn sie (die Bekennende Kirche) – weil man von der Einigkeit von Christen und Marxisten spricht – in Versuchung käme, zur jetzigen Gesellschaftsordnung »nein« zu sagen, würde sie sich und somit den christlichen Glauben in unserem Staat selbst liquidieren, dann wäre sie einer Anti-Ideologie verfallen.7

Es dürfe aber keine Ideologisierung der Kirche geben.

Die Gebote der sozialistischen Moral könne die Kirche anerkennen, soweit sie dem Nächsten helfen. Sie müsse ihnen aber z. B. in Fragen der Jugendweihe8 energisch widerstehen. Wer nichts zur Erziehung der Kinder zum Hass sage, stimme ihr zu.9

Die Presse lege Meinungen und Äußerungen von Geistlichen einseitig und ideologisch aus.

Das Evangelium sei zwar kein Mittel politischer Erziehung, es habe aber die Verantwortung, sich zu Fragen des Lebens zu äußern. Religion sei nicht Privatsache, und die öffentliche Verantwortung der Kirche sei heute besonders nötig.

Die Synode 1943 in Breslau10 habe als einzige gegen die Hitlerherrschaft Stellung genommen.11 Auch heute dürfe ein Rückzug auf innerkirchliche Räume nicht zugelassen werden.

Das Engagement für den Frieden in der Welt müsse auch dort geschehen, wo das Risiko am größten sei (nicht nur auf große Entfernungen, wie z. B. Vietnam12). Der Christ müsse das hier, in unserem Raum, tun.

In der Verfassung der DDR seien Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert. Es sei aber eine sozialistische Verfassung, wonach alle Bürger zu sozialistischen Persönlichkeiten erzogen werden sollten. Und daraus ergebe sich eine besondere Spannung bei der Verwirklichung der Menschenrechte und der Freiheit. »Besonders schwere Fälle« z. B. der Benachteiligung von Christen in Bildungs- und Erziehungsfragen konnten zwar bereinigt werden, es gehe aber um einen »grundlegenden Wandel«. Die Alternative – EOS oder Konfirmation – führe zu großen Problemen, sei ein Widerspruch zur Verfassung und eine Verletzung der Gewissensfreiheit. Die gegenwärtige Atmosphäre sei unerträglich.

Das weltanschauliche Erziehungsziel müsse unbedingt Glaubens- und Gewissensfreiheit respektieren, das sei Grundrecht für alle Menschen. Das müsse auch im Jugendgesetz13 verankert sein. Im Zusammenhang mit den Ausführungen des Genossen Breschnew14 auf dem Weltkongress der Friedenskräfte in Moskau15 erklärte Fränkel, dass die friedliche Koexistenz unteilbar sei. Sie könne nicht nur zwischen den Machtblöcken bestehen, sondern müsse erst zwischen den Menschen in unserer Gesellschaft geschaffen werden.16

Das christliche Gewissen verlange eine »Strategie der Toleranz«. 1933 bis 1945 habe die Kirche gelernt, dass der Protest aller gegen Diskriminierung nötig ist. Heute müsse sie ebenfalls danach handeln.

Es könnte geschehen, dass hauptamtliche Kirchenleute gesellschaftlich abgleiten, hier müssten die Gemeinden die Gefahr erkennen.

Man habe aus dem Kirchenkampf gelernt, dass niemand Prognosen für die Umwelt stellen kann. Gott habe das 1 000-jährige Reich nur zwölf Jahre alt werden lassen.

Die Kinder würden in Zukunft auch mit Gott und Christus leben. Der Glaube an diese Zukunft sei mehr wert als eine Karriere in unserer Zeit.

Die Ausführungen Fränkels wurden mit lebhaftem Beifall aufgenommen.

Im Anschluss an den Vortrag wurde ein Material verteilt, das die Ziele der Bekennenden Kirche formuliert. u. a. wird darin zu »Glaubensfreiheit« und »Freiheit weltanschaulicher Diskussion und christlichen Bekennens«, gegen die »Einengung zur Kulturkirche«, gegen »Einschränkung oder Verbot von Formen christlicher Lebensgemeinschaft«, zur »Bewältigung der Not christlicher Eltern, Jugendlicher und Kinder« usw. Stellung genommen.

Unterzeichnet ist dieses Material vom Landesbruderrat der Bekennenden Evangelisch-Lutherischen Kirche Sachsens.

(Dieses Material sowie der volle Wortlaut des Vortrages von Fränkel sind als Anlage beigefügt.)

Wie dem MfS intern bekannt wurde, gibt es in leitenden kirchlichen Kreisen der Landeskirche Sachsen zum vorgenannten Auftreten Fränkels und in diesem Zusammenhang zur Rolle Fränkels und der Bekennenden Kirche überhaupt folgende Reaktion:

Die Bekennende Kirche und ihr Leitungsgremium, der Landesbruderrat, sei an und für sich eine überholte Einrichtung, deren Existenzberechtigung in kirchlichen Kreisen angezweifelt wird. Sie sollte mehr oder weniger aus Tradition bestehen, denn man muss fragen, gegen wen will sie denn etwas bekennen.

Sie spiele auch innerhalb des kirchlichen Rahmens eine zum Teil üble Rolle, indem sie immer die Gefahr der Spaltung der Landeskirche provoziere. Auch die Übertragung des genannten Vortrages an Bischof Fränkel kann mit bestimmter Absicht geschehen sein, oder es habe sich im sächsischen Raum niemand bereitgefunden, ein solches anrüchiges Thema zu behandeln.

Die Behandlung des Themas durch Fränkel habe dann auch gezeigt, dass er sich nicht geändert hat und auch nicht ändern werde.

Dieses bezieht sich sowohl auf seine politische als auch auf seine theologische Stellung. Fränkel bringe immer wieder dieselbe Platte. Neben der politischen Aussage, mit der man sich nicht einverstanden erklären kann, seien auch theologisch falsche Aussagen enthalten.

Es sei jedoch schwierig, gegen einen Bischof einer anderen Landeskirche Stellung zu nehmen.

Diese Information darf aus Gründen der Sicherheit der Quelle nicht öffentlich ausgewertet werden.

Anlage 1 zur Information Nr. 1172/73

Denkschrift des Bruderrates

Der Landesbruderrat | Der Bekennenden Evangelisch-Lutherischen Kirche Sachsens | Dresden, den Oktober 1973 | Nur für innerkirchlichen Dienstgebrauch!

Was will die Bekennende Kirche heute?

Die Bekennende Kirche ist eine freie unabhängige Bruderschaft bekennender Christen innerhalb der Kirche und innerhalb der Gemeinden. In unserer Zeit, wo die Kirche in der Gefahr steht, sich hinter Kirchenmauern zurückzuziehen, oder umgekehrt, anderen Mächten und Gewalten dienstbar zu werden als ihren Herrn, und in einer Situation, wo sie sich innerkirchlich zerstreitet, fragen wir uns: Was will der Dreieinige Gott heute von uns?

Wir suchen die Antwort im lebendigen Gotteswort Alten und Neuen Testaments, in den Bekenntnissen unserer Evangelisch-Lutherischen Kirche sowie in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934.

Wir bezeugen:

1. Jesus Christus ist unser Heiland. Sein Kreuz ist das Zentrum unseres Glaubens. Seine Auferstehung ist die Quelle unserer Kraft. Jesus ist nicht nur Vorbild. Am Kreuz geschieht tatsächlich die Erlösung. Ostern bringt die Überwindung des Todes durch die leibliche Auferstehung.

Alles, was in Kirche und Ökumene nicht aus diesem Glauben kommt und nicht zu diesem Glauben führt, ist überflüssig oder schädlich.

2. Jesus Christus ist der Heiland der Welt. Darum bekennen wir Christen seinen Namen und sein Wort vor allen Menschen und in aller Öffentlichkeit. Die Welt soll wissen, was Gott von ihr fordert und was er ihr schenkt.

Darum widerstehen wir jedem Versuch, die Kirche Gottes zur Kultkirche einzuengen oder zum Sprechsaal auszuweiten. Wir treten ein für die Freiheit der Verkündigung des Evangeliums.

3. Im Gottesdienst dient Gott den Menschen durch sein Wort und durch die Sakramente, durch die Vergebung und den Segen.

Im Gottesdienst dient der Mensch dem Herrn durch sein Hören und Beten, Loben und Danken. Der Gottesdienst ist Mitte und Ursprung des Christenlebens in der Welt.

Die Meinung ist irrig, dass der Gottesdienst nebensächlich sei oder seine Berechtigung ausschließlich als eine Vorbereitung des Dienstes der Christen in der Welt habe.

4. Die Gemeinde braucht die Gliedschaft ihrer Glieder untereinander.

Darum wenden wir uns gegen jeden Versuch, Rüstzeiten oder andere Formern christlicher Lebensgemeinschaft einzuschränken oder zu verbieten.

5. Die Gemeinde braucht ihre Jugend. Darum sind Junge Gemeinde sowie christliche Erziehung und Unterweisung unaufgebbare Teile kirchlichen Lebens. Wir wollen christlichen Eltern, Jugendlichen und Kindern zu einem Bekenntnis vor den Menschen helfen und zur geistlichen Bewältigung ihrer Not beitragen.

Wir widerstehen einer atheistischen Schulerziehung christlicher Kinder als einen Vorstoß gegen den Willen Gottes, wie er sich z. B. in den Menschenrechten widerspiegelt. Wir fordern die Freiheit weltanschaulicher Diskussion und christlichen Bekennens für unsere Jugendlichen in allen Schulen und Ausbildungsstätten aufgrund der Glaubens- und Gewissensfreiheit.

6. Wir wissen, dass Gott uns in die Deutsche Demokratische Republik zur Erfüllung seines Willens gestellt hat, und dass wir für unsere Mitarbeit im öffentlichen Leben vor Gott und Menschen verantwortlich sind. Wir danken Gott für den Frieden, den er uns bis heute schenkt und bitten ihn, dass er »Krieg und alle wohlverdienten Strafen« (Agende I) von uns gnädig abwende. Es ist selbstverständlich, dass wir als bekennende Christen uns dafür auch politisch und praktisch einsetzen.

Eine in ihrem Inhalt einseitig weltlich begrenzte Friedensarbeit innerhalb der Kirche halten wir für ebenso unmöglich, wie die Verwechslung von Gottes Heil mit dem irdischen Frieden.

7. Der Herr schafft die Einheit seiner Kirche. Wir wollen im Gehorsam gegen ihn, diese Einheit auch praktisch fördern, und bitten darum um seinen Heiligen Geist.

Wir warnen aber davor, dass Menschen eine Einheit proklamieren, ohne dass vorher die Grundlage eines gemeinsamen Bekennens und Verkündigens in einem kirchlichen Bekenntnis gefunden ist.

Jesus spricht: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.

Gott, der Vater schafft die Welt durch sein Wort und gibt uns sein Gebot. Wir vertrauen und gehorchen der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.

Wir bitten Gott um seinen Heiligen Geist, damit wir Jesus vor der Welt bekennen und unserer Umwelt in Liebe beistehen können.

Anbetung, Zeugnis und Dienst gehören zusammen.

Wir rufen alle, die diesen Grundsätzen beistimmen, dazu auf, sich mit uns in dieser Arbeit zu verbinden.

Der Landesbruderrat | der Bekennenden Evangelisch-Lutherischen Kirche Sachsens

gez. Dr. Ihmels, Rochlitz | Walter Dehnel, Zschorlau | Horst Ditter, Eibenstock | Joachim Drese, Döbeln | Werner Fehlberg, Leipzig | Ernst Kanig, Dresden | Dr. Hermann Klemm, Meißen | Carl Lange, Zwickau | Kurt Lehmann, Dresden | Wolfgang Lommatzsch, Dresden Christoph Müller, Glaubitz | Werner Müller, Dresden | Werner Rein, Falkenau | Hans Rißmann, Dresden | Elfriede Rosenmüller, Dresden | Paul Schmidt, Leipzig | Gottfried Schöne, Großröhrsdorf | Alfred Stühmeier, Scheibenberg | Werner Zacharias, Adorf.

Anlage 2 zur Information Nr. 1172/73

[Rede Hans-Joachim Fränkels]

Barmer theologische Erklärung

Liebe Brüder und Schwestern!

Was haben wir aus dem Kirchenkampf gelernt?

Dieses Thema ist hier für den heutigen Vortrag gestellt worden.

Ich verstehe das Thema so, dass damit danach gefragt wird, was die damals im Kirchenkampf gewonnenen Erkenntnisse und geistigen Erfahrungen für unsere Situation heute bedeuten. Es kann sich ja nicht darum handeln, dass wir das Wort wie einst im Kirchenkampf, zum Beispiel in der Barmer theologischen Erklärung, bekannt haben, einfach nur zitieren, sondern es geht darum, es in unsere Lage hineinzulegen, also es zu interpretieren.

Lassen Sie mich einleitend ein Wort zur Einführung sagen. Es ist uns heute viel stärker als vor 40 Jahren bewusst, dass wir in einem beispiellosen weltgeschichtlichen Wandel stehen. Dabei denke ich nicht in erster Linie an das, was aus unserem deutschen Vaterland in diesen vier Jahrzehnten politisch geworden ist. Ich denke in erster Linie an die atemberaubenden Umwälzungen auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Technik, denen wir uns gegenübersehen und deren Ende noch nicht abzusehen ist. Fortschritte, wie sie früher in Jahrhunderten gemacht wurden, vollziehen sich heute in Jahrzehnten. Die Wirklichkeit überholt die Phantasie, aber damit wachsen auch die Weltprobleme. Gerade das Tempo des Wandels verrät, wie schnell der Umbruch der Zeiten ist, in denen wir stehen. Das Zeitalter des …17 und bodengebundenen Menschen, das sich vom Übergang des Nomadentums zur Sesshaftigkeit vollzog, geht zu Ende. Das bedeutet einen tiefen Wandel im Weltgefühl der vielen altver… Auflösung erreicht.

Hitlers Blut- und Bodenmythologie war der ebenso romantische wie verzweifelte und vergebliche Versuch, dem Rad der Geschichte in die Speichen zu fallen.

Ein Ereignis markiert in besonderer Weise den Umbruch. Das ist die vor wenigen Jahren erfolgte Mondlandung.18 Ermöglicht wurde der Schritt ins Kosmische durch die technisch-wissenschaftliche Zivilisation. Mit ihr vollzieht sich eine früher ungeahnte Weltbemächtigung. Aber, so gewiss die Wissenschaft, die hier ihre Triumphe feiert, unaufhebbar ist, so gewiss müssen wir auch ihre Zweideutigkeit sehen. Sie hat nicht nur ihre positive, sondern sie hat auch ihre negative Seite. Zum Beispiel der medizinische Fortschritt, der den Tot zurückdrängt, hat doch zugleich durch Überbevölkerung das große Gespenst des Hungertodes für Millionen in unserer Zeit …

Der Mensch steuert heute die kompliziertesten Apparaturen und wird zugleich durch deren Leistung in seiner eigenen Leistung fast verdrängt. Hier wird der Mensch in seinem Humanum gefährdet.

Die Atomkraft ermöglicht ein Leben in einer Weltgesellschaft, in der die früheren Nöte gebannt werden können und bedroht zugleich die Menschheit mit Selbstvernichtung und Auslöschung ihrer Geschichte. Diese Äquivalenz ist darum so bedrohlich, weil die rationale Mündigkeit der Menschen in einem erschreckenden Missverhältnis zu seiner ethischen Unreife steht. In dieser Welt der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation ist der Weltfriede zur Notwendigkeit geworden, wenn die Menschheit überleben will. Aber er kann, dieser Friede, kann nur errungen werden, wenn die Menschheit die erforderliche ethische Reife gewinnt. Hierin liegt eine Herausforderung an die Kirche, die Heilsbotschaft so zu sagen, dass die in dieser Botschaft liegende Hilfe recht verstanden wird. Dass dieser Wandel der Welt auch die Kirche nicht unberührt lässt, ist selbstverständlich.

Die große Epoche unserer abendländischen Geschichte, in der die Kirche der Mittelpunkt der Gesellschaft war, ist unwiderruflich zu Ende.

Dies tritt im Bereich der sozialistischen Weltanschauungsstaaten viel klarer zutage als in den Demokratien des Westens.

Wir erleben in unserem Bereich unter der politischen Herrschaft der Ideologie des dialektischen Materialismus das Zusammenbrechen der Volkskirche von früher. Die Statistiken über … Raum, Konfirmation, sogar über die kirchliche Bestattung und über die Kirchenaustritte sprechen eine beredte Sprache.

Konnte es unmittelbar nach dem Zusammenbruch von 1945 für eine Zeit so aussehen, als ob sich unter den notvollen Verhältnissen damals eine stärkere Hinwendung zur Kirche vollziehen würde, die über das Interesse von Hilfssendungspaketen hinausgeht, so zeigte sich doch bald, dass eine innere Erneuerung der Menschen unseres Volkes versagt blieb. Was bedeutet, dass doch damals im Zusammenbruch aller deutschen Institutionen in unserem Vaterland nur die Kirche erhalten blieb, das wurde nicht erkannt und die Chance verspielt.

Dass in der sich ständig vertiefenden Spaltung unseres Volkes gerade die evangelische Kirche ein Band der Einheit hätte sein können. Ich sage das nicht, weil ich etwa meine, dass es die Aufgabe der Kirche sei, politischen Wünschen zu dienen. Gerade das würde die Kirche in ihrem Wesen korrumpieren. Man kann Christus nur um seinetwillen und nicht um anderer Zwecke willen wollen. Es anders zu halten, ist eine trügerische Versuchung. Aber ich sage das alles, weil die Erhaltung der Kirche im Zusammenbruch von 1945 ein echtes Angebot von Gott war, am ersten nach dem Reiche Gottes zu trachten und es Gott zu glauben, dass es uns auch damit alles andere schenken würde. Wir haben, ohne alle Illusionen, zu sehen, da wir zu einer Kirche der Minderheit in einer atheistischen Umwelt geworden sind, wie wir damit fertig werden.

Daran wird sich entscheiden, ob wir Kirche sind, die ihrem Herren allein vertraut und gehorcht oder den Versuchungen der Zeit erliegt.

Das, was wir einst im Kirchenkampf gelernt haben, kann uns auch heute eine echte Hilfe zu Glaube und Gehorsam sein. Wir haben gelernt, Verkündigung der Kirche und Glauben gründen sich auf Christus allein. Christus ist das eine Wort Gottes. So haben wir es damals in Barmen bekannt. Damit ist uns für die Begründung unseres Glaubens an Gott in der Auseinandersetzung mit dem Atheismus eine wichtige Hilfe gegeben. Vonseiten der Atheisten wird ja unser Glaube an Gott immer wieder im Sinne einer unwissenschaftlichen Welterklärung verstanden. Es wird uns unterstellt, wir setzten überall dort, wo noch Lücken in einer wissenschaftlichen Erklärung der Welt sind, Gott als Mittel der Erklärung ein.

Damit wird Gott sozusagen in den Lücken unserer Erkenntnis ange… Diesem Irrtum haben wir freilich selbst manchmal Vorschub geleistet. Ich will hier nur ein kleines Beispiel nennen. Es kommt auch heute noch vor, dass manche Christen angesichts fortschreitender Erfolge der Wissenschaft fast triumphierend feststellen: aber das Wetter können sie doch nicht machen. Eine solche Feststellung soll dann zur Begründung des Glaubens dienen. Doch das heißt, Gott zum Lückenbüßer zu machen und gerade damit die irrige These von der Unvereinbarkeit von Glauben und Wissenschaft zu stützen. Aber was haben wir im Kirchenkampf gelernt? Dass Gott für uns nicht in den Dingen der Welt, weder in jenen, wie wir erklären, noch in denen, die wir nicht erklären können, zu finden ist, sondern allein in Christus, wie auch die Wahrung Gottes in Christus bedeutet, totale Entgötterung der Welt und die damit zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung wird.

Ich bitte einmal darüber nachzudenken, warum das, was wir die moderne Wissenschaft nennen, ausgerechnet im Abendland entstanden ist.

Aber die Offenbarung in Christus verwehrt es uns, dass in solcher wissenschaftlichen Forschung gewonnene Teilwissen unter Leugnung Gottes als die eine, alles umfassende Wahrheit auszugeben, als die letzte Wahrheit, in der alle Fragen, auch die Grundfragen unserer Existenz, beantwortet seien.

Erst in der Begegnung mit Jesus Christus erschließen sich Wahrheit und Bestimmung des Menschen, Gottesgegenüber und des Menschen Nächster zu sein. So, so werden wir frei für sachgemäße wissenschaftliche Forschung und zugleich vor einer Ideologisierung der Wissenschaft bewahrt. In dieser Freiheit sind wir davon frei, wissenschaftliche Ergebnisse auf Zweckinteressen zu verfälschen oder Karikaturen des Geschichtsbildes zu zeichnen. Wir haben der damals herrschenden völkischen Ideologie das Bekenntnis zur Herrschaft Jesu Christi entgegengestellt. Man könnte uns daher mit einem gewissen Recht in die Front der Antifaschisten einreihen. Aber damit würde man uns doch im Grunde ideologisch missverstehen. Denn unser Nein zur damals herrschenden rassistischen Ideologie kam nicht aus einer Antiideologie, sondern aus dem alle Ideologien überlegenen, sie begrenzenden und den Menschen rettenden und richtenden Worte Gottes!

Das hat für unsere Haltung als Christen und Kirche in unserer vom dialektischen Materialismus geprägten Gesellschaft eine entscheidende Bedeutung.

Darin, dass das Evangelium von Jesus Christus und der dialektische Materialismus in unüberbrückbarem Gegensatz stehen, darin sind sich Christen und Marxisten einig.

Von da ab könnte die Versuchung, ich sage absichtlich die Versuchung, naheliegen, die Kirche müsse zu unserer Gesellschaft ein totales Nein sagen.

Ich weiß, dass das manche durchaus im Grunde ihres Herzens meinen, wenn wirs auch nicht glauben. Ich will einmal ganz davon absehen, dass eine Kirche, die ein solches totales Nein spräche, sich selbst zur Liquidierung in unserem Staat anmelden würde. Ich gebe vielmehr Folgendes zu bedenken. Wir würden mit diesem totalen Nein die Marxisten in ihrer Vermutung bestärken, dass unser Glaube weiter nichts sei als eine Antiideologie. Wir würden damit vergessen, was wir im Kirchenkampf gelernt haben: Die Macht hat Gott allein!

Wir haben daher, und darauf kommt es an, auch über dieser unserer Gesellschaft, in welcher der dialektische Materialismus als die sogenannte wissenschaftliche Weltanschauung für alle bindendes Gesetz werden sollte, an die Macht des Schöpfers und Erlösers zu glauben. Durch diese überlegene Macht unseres Gottes wird jeder, aber wirklich jeder ideologische Absolutanspruch begrenzt. Weil der entschlossene Wille, den dialektischen Materialismus für alle verbindlich durchzusetzen, Gott nicht hindern kann, uns in unserer Gesellschaft Gutes zu tun mit deren Willen, ohne deren Willen und auch gegen deren Willen.

So wäre es … Es wäre undankbar gegen Gott, wenn wir übersehen wollten, wieviel seit 1945 zum Wohle der Menschen in unserer Gesellschaft geschehen ist.

Wir haben im Kirchenkampf in der Barmer theologischen Erklärung bekannt, dass uns durch »Jesus Christus frohe Befreiung« aus den gottlosen Bindungen dieser Welt dankbarer Dienst an Gottesgeschöpfen widerfährt. Darin aber liegt die Chance der Freiheit zum Dienst in unserer Gesellschaft.

Wer, wer aus dem totalen Anspruch der marxistischen Ideologie folgert, und zwar unter Berufung auf den Herrschaftsanspruch Jesu Christi, folgert, dass eine Nichtarbeit in unserer Gesellschaft weder erlaubt noch verboten sei, der würde gesellschaftliche Macht mit der Allmacht des barmherzigen Schöpfers verwechseln und die uns in Christus geschenkte Befreiung verleugnen.

Die heimliche Flucht aus gesellschaftlicher Verantwortung wäre der Verzicht auf die Freiheit der Kinder Gottes.

Was bedeutet diese Freiheit für die Mitarbeit der Christen in dieser unserer Gesellschaft? Ich weiß natürlich, dass der Marxismus-Leninismus nicht in der untrennbaren Einheit aller seiner Bestandteile, also auch des prinzipiellen Atheismus, zu verstehen ist. Aber gerade gegenüber diesem Selbstverständlich sind wir frei, die atheistische Komponente auszuklammern. Als die durch Christus von den gottlosen Bindungen dieser Welt Befreiten, nehmen wir uns die Freiheit, in dieser unserer Gesellschaft zwischen dem gebotenen Dienst an der Erhaltung des Lebens und der gebotenen Verweigerung der atheistischen Bindung zu unterscheiden.

Das bedeutet zum Beispiel unser Verhältnis zu den Geboten der sozialistischen Moral. Soweit wir in den Geboten der sozialistischen Moral Hilfen für unsere Mitarbeit in der Gesellschaft als die am nächsten empfangen, nehmen wir in der Freiheit der Kinder Gottes diese Hilfe an, und in derselben Freiheit widerstehen wir dort, wo uns im Anspruch der Gebote der sozialistischen Moral der Herrschaftsanspruch des sich selbst erlösenden Menschen unterbreitet werden soll. Es gehört zur seelsorgerischen Aufgabe der Kirche, ihre Glieder in dieser Unterscheidung vom gebotenen Dienst am Nächsten und gebotener Verweigerung der atheistischen Bindung einzugehen. Darum haben wir ein glasklares Nein zur atheistischen Jugendweihe gesagt. Dabei werden wir im Einzelfall die Erfahrung machen, dass manche Christen schon dort eine atheistische Bindung sehen, wo sie für andere Christen noch nicht erkennbar ist. Wir werden uns hier ein verschiedenes Maß an Erkenntnis zubilligen dürfen, solange wir zu dem Bekenntnis zu der uns in Christus geschenkten Freiheit von allen gottlosen Bindungen einig sind und auch bereit sind, uns durch Christus die Gewissen schärfen zu lassen.

So wie wir im Kirchenkampf vertiefte Erkenntnis von Christus als Grund unseres Glaubens und unserer Freiheit empfangen haben, so haben wir auch neu erkannt, was es um den Auftrag der Kirche ist. Und in der sechsten Barmer These heißt es: Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit begründet ist, besteht darin, an Christi statt die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk. Vorgemerkt an alles Volk. Damit wird die Reichweite des Evangeliums angesprochen. Niemand soll ausgenommen sein.

Ich darf daran erinnern, dass damals in der Hitlerzeit treue Christen diejenigen Brüder und Schwestern, die den Judenstern tragen mussten, zum Gottesdienst, begleitet haben und somit ihren persönlichen Einsatz bezeugt haben, dass Gottes Gnade nicht vor Rassengrenzen halt macht.

Aber es hat, das müssen wir zu unserer Beschämung sagen, Gemeindekirchenräte gegeben, die beschlussmäßig die Taufe von Juden untersagt haben. Die Versuchung, in dieser Weise die Reichweite des Evangeliums zu beschränken, besteht heute nicht mehr. Wohl aber besteht die Versuchung, dass die Kirche sich trotz aller Betonung ihrer missionarischen Wendung doch aus dem Kreis ihrer Glieder zurückzieht. Damit aber lässt man sich die Zuständigkeit der Kirche von der Welt her vorschreiben und beschränkt sich auf die, die dem Urteil der Atheisten nach in religiösen Vorurteilen befangen sind, denen unbegreiflicherweise auch heute noch nicht das befreiende Licht des Atheismus aufgegangen ist.

Aber unser Herr Jesus Christus ist kein Museumsdirektor und auch kein Chef eines Naturschutzparkes für rückständige Gemüter. Er ist für alle gestorben, und er ist der Herr aller Menschen.

Damit hat sich die Kirche mit ihrem Auftrag auch in unserer Gesellschaft für alle zuständig zu wissen. Eine Kirche, die sich auf diejenigen beschränken ließe, die noch sogenannte religiöse Bedürfnisse haben, wäre der Versuchung erlegen, ihre Sendung für die Welt zu verleugnen.

So wenig wie die Botschaft von der freien Gnade Gottes eine Begrenzung ihrer Reichweite erträgt, so wenig duldet sie eine Verkürzung ihres Inhaltes.

Jesus Christus, so haben wir's im Kirchenkampf gelernt, ist Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden und mit gleichem Ernst Gottes Anspruch auf unser ganzes Leben. Davon ist nichts abzumachen.

Ich habe nichts dagegen, wenn heute auf die Bedeutung des Engagements der Kirche im Kampf gegen die Nöte der Welt und für das Wohl der Menschen besonders hingewiesen wird. Aber ich habe alles dagegen, wenn die Bedürfnislage der Welt zum Maßstab unserer Verkündigung gemacht wird. Die Vergebung der Sünden ist in der Welt kein gefragter Artikel, aber das ändert nichts daran, dass sie die entscheidende, den Menschen rettende Hilfe Gottes ist, für deren Verkündigung es kein Moratorium geben darf. Wo das vergessen wird, da verflacht das Evangelium von Jesus Christus zum moralischen Aufruf zur Nichtmenschlichkeit. Dem haben wir zu widerstehen. Wie wir Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden nicht zu verflachen haben, so haben wir auch Gottes Anspruch auf unser ganzes Leben nicht zu verkürzen.

Wer zum Beispiel noch so wunderbar von der Liebe Gottes predigt, aber nicht klar sagt, dass wir um dieser Liebe willen bei der Erziehung unserer Kinder zum Hass nicht mitmachen werden, der hat die Liebe Gottes nicht gepredigt.

Wer die Gebote Gottes nur so weit predigt, als er dabei der Zustimmung der politischen Gewalten Gewicht gibt, muss wissen, dass er damit auch die Botschaft von der Vergebung der Sünden verkürzt.

Die Versuchung ist groß, nur den angenehmen Teil der Wahrheit zu sagen. In diesem Zusammenhang muss ich an so manche Presseberichte über Erklärungen von Geistlichen erinnern. Viele unserer treuen Gemeindeglieder fühlen sich dadurch mit Recht beirrt, weil diese Erklärungen oft gerade dadurch, was sie nicht sagen, nicht mehr wahrhaftig sind. Wer als Prediger des Evangeliums zu politischen Fragen redet, darf auch das, was weniger gern gehört wird, nicht verschweigen, damit nicht das Evangelium zum Mittel politischer Zielsetzung wird.

Jesus Christus hat seine Kirche nicht als Institut für politischen Kredit gestiftet. Das bedeutet freilich nicht, dass das Evangelium keinen Bezug auf öffentliche Fragen, wie z. B. Politik, Wirtschaft und Recht, hätte und es dementsprechend keine öffentliche Verantwortung der Kirche gäbe.

Wir haben damals im Kirchenkampf bekannt, dass wir in allen Bereichen unseres Lebens der Herrschaft Jesu Christi unterstehen. Damit ist uns aber eine Beschränkung der Verantwortung auf dem innerkirchlichen Bereich und eine Flucht in die private Erbauung verwehrt. Gerade unter dem Ansturm des Atheismus ist die sogenannte Innerlichkeit eine große Verführung. Hier wird die Erbauung der Gemeinde verstanden im Sinne der inneren Erbauung des Herzens. Hier wünsche ich mich ungestört von der Welt, ihren Fragen und Forderungen, frommer Betrachtung hinzugeben. Eine Predigt, die in die Verkündung des Evangeliums die großen öffentlichen Fragen des Rechts, der Wirtschaft und des Friedens einbezieht, wird als störend empfunden. Der Friede des Herzens ist alles. Der Friede der Welt aber eine rein politische Sache, die mit dem Evangelium nichts zu tun hat.

Das aber bedeutet die Preisgabe der öffentlichen Bereiche an ihre Eigengesetzlichkeit und die Privatisierung des Christseins. Das läuft dann auf den bekannten, auch von den Marxisten behaupteten Satz hinaus: Religion ist Privatsache.

Doch dieser Satz widerspricht dem Evangelium, denn Christus ist nicht Privatperson, sondern ihm ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Er ist der Herr der Welt. Weil Gott in Christus die Welt mit sich selber versöhnte, ist im Auftrag diese Versöhnung zu proklamieren und die öffentliche Verantwortung der Kirche unausweichlich begründet.

Nun weiß ich wohl, dass die Kirche in der Vergangenheit dieser Verantwortung oft nicht entsprochen hat. Sie hat zum Beispiel angesichts der sozialen Nöte des vorigen Jahrhunderts zwar den Dienst der Liebe nicht vergessen, aber die Frage nach dem Recht nicht gestellt.

Und im Kirchenkampf hat selbst in der Bekennenden Kirche nur die Bekenntnissynode in Breslau 1943 als einzige öffentlich ihre Stimme gegen den Mord an den Juden erhoben.

Es könnte naheliegen, angesichts der Versäumnisse der Kirche, in der Vergangenheit zu sagen, nun seid aber mal hübsch bescheiden und haltet euch zurück. Aber die im Auftrag der Evangeliumsverkündung sich gründende öffentliche Verantwortung der Kirche wird auch nicht durch Versagen in Vergangenheit und Gegenwart außer Kraft gesetzt.

Buße, Buße heißt nicht Lähmung angesichts der Schuld, sondern besserer Gehorsam gegenüber dem Auftrag. Es darf keinen Rückzug aus dem inneren kirchlichen Bereich geben. Als man sich im Kirchenkampf der Hitlerzeit Fragen der liturgischen Erneuerung zuwandte, da hat Dietrich Bonnhöfer gesagt: Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.

Und heute müssen wir sagen: Nur, nur wer mit Leidenschaft für einen Frieden in der Welt eintritt, in welchem Menschenrechte und Menschenwürde gewahrt sind, darf sich des Herzensfrieden erfreuen.

Dem wird Jesus Christus Wahrhaftigkeit bedeuten.

Nun hat man gewiss in der Weltchristenheit erkannt, dass die Kirche sich im Kampf für den Frieden und das … Wohl der Menschen und gegen offenbare Unrechtsituationen engagieren muss. Aber dieses Engagement darf nicht einseitig sein, sodass man dort am lautesten und klarsten redet, wo das Risiko am geringsten ist. Wir haben über unseren Einsatz für den fernen Nächsten nicht den nahen Nächsten zu vergessen.

Unser Einspruch gegen den Terror in Chile19 wird umso glaubwürdiger sein, je ernster wir als Kirche unsere öffentliche Verantwortung im eigenen Raum wahrnehmen. In jeder Gesellschaft, in jeder Gesellschaftsordnung bleibt der Mensch ein Sünder. Darum ist es Irrtum zu meinen, dass die Qualität des Sozialismus die öffentliche Verantwortung der Kirche überflüssig mache.

Nun kann darüber kein Streit sein, dass in unserer Verfassung grundlegende Menschenrechte verankert sind. Hier ist an erster Stelle das entscheidende Recht der Glaubens- und Gewissensfreiheit zu nennen. Andererseits ist unsere Verfassung eine sozialistische Verfassung, und das bedeutet nicht nur, dass für unsere Gesellschaftsordnung die Vergesellschaftung der Produktionsmittel grundlegend ist, sondern das bedeutet weit darüber hinaus, dass unsere Gesellschaft durch den Marxismus-Leninismus geprägt ist unter der Zielsetzung, alle Bürger zu sozialistischen Persönlichkeiten heranzubilden.

Damit aber ist notwendig eine Spannung zwischen dieser Zielsetzung und grundlegenden Menschenrechten wie der Religionsfreiheit, der Glaubensfreiheit und Gewissensfreiheit, der Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung gegeben. Diese Spannung lässt sich auch nicht dadurch auflösen, dass diese Menschenrechte an das Maß der Leistung für den Sozialismus gebunden und also nachträglich aufgrund erfüllter Bedingungen den Bürgern zugesprochen werden. Denn dadurch werden Menschenrechte und die damit verbundenen Freiheiten und Grundrechte in ihrem Wesen verkannt. Sie sind das, was sie sind, wenn sie als dem Menschen vorgegeben anerkannt und nicht unter das Soll einer bestimmten Gesinnung gestellt werden. Dieses Vorgegebensein ist in Gottes Schöpfung und Erlösung begründet. Die Anerkennung, die Anerkennung dieses Vorgegebenseins ist ein unbewältigtes Problem in unserer Gesellschaft.

Dieses Problem stellt sich heute in besonderer Schärfe auf dem Bildungs- und Erziehungssektor. Die Nöte, die christliche Eltern und Kinder hier haben, sind allgemein bekannt und auf allen Synoden der evangelischen Landeskirchen wie auch auf der Bundessynode so oft zur Sprache gekommen, dass ich jetzt nicht im Einzelnen darauf einzugehen brauche.

Es soll auch anerkannt werden, dass einige besonders schwere Fälle der Benachteiligung christlicher Kinder bereinigt werden konnten. Aber ich kann meine tiefe Enttäuschung nicht verbergen, dass trotz aller Bemühungen der Kirche, Eltern und Kindern zu helfen, bisher ein grundlegender Wandel noch nicht eingetreten ist. Noch immer müssen wir es erleben, dass zum Beispiel Eltern gesagt wird, ihr Kind soll auf die erweiterte Oberschule kommen, aber es besucht den Konfirmantenunterricht. Sie müssen sich entscheiden.

So wie jedem einzelnen Fall nachzugehen ist, und wir den Eltern Mut machen müssen, müssen wir doch erkennen, dass es nicht nur um einzelne Fälle geht, sondern hinter allen diesen Nöten steht der Widerspruch zwischen dem Erziehungsziel, sich den dialektischen Materialismus anzueignen, und dem christlichen Glauben, der sich eine atheistische Weltanschauung nicht zueigenmachen kann. Jeder Versuch, diesen Widerspruch durch Verletzung der Gewissen aufzulösen, macht die Atmosphäre unerträglich.

Dieser Widerspruch kann nur so ertragen werden, dass das Toleranzprinzip grundlegend zur Geltung kommt. Echte Toleranz bedeutet den prinzipiellen Verzicht darauf, das weltanschauliche Erziehungsziel mit administrativen Mitteln, mit Bruch oder irgendwelchen Benachteiligungen erreichen zu wollen. Echte Toleranz bedeutet die echte Respektierung der Gewissen. Die damit gegebene Spannung zwischen dem weltanschaulichen Erziehungsziel und dem Toleranzprinzip muss aufgehalten werden. Das ist die Zumutung, die die Gesellschaft unserer christlichen Gemeinde stellt. Darum müssen wir die Erwartung aussprechen, dass auch in dem neuen Jugendgesetz die Glaubens- und Gewissensfreiheit eine feste Verankerung findet.

Nun weiß ich natürlich, dass, wenn das Toleranzprinzip mit aller Klarheit angesprochen wird, die Sorge auftaucht, es würde eine Liberalisierung gefordert, die eine Erweichung fester Standpunkte und Überzeugungen mit sich bringt. Ich meine aber, man muss zwischen echter Toleranz und einer Liberalisierung, die zur Unverbindlichkeit führt, unterscheiden. Ich habe Verständnis für die Sorge vor einer ins Unverbindliche auflösenden Liberalisierung, und an einer solchen Liberalisierung liegt mir auch nicht. Aber ich muss darauf bestehen, dass die Glaubens- und Gewissensfreiheit als Grundrecht, als vorgegeben anerkannt wird, und die damit gegebene Spannung zwischen weltanschaulichen Zielen einerseits und dem Toleranzprinzip andererseits getragen wird.

Man sage nicht, das sei unmöglich. Im Atomzeitalter ist der Weltfriede zu einer ehernen Notwendigkeit geworden, wenn die Menschheit überleben will. Das erfordert zwingend die friedliche Koexistenz und das umsomehr, als die das Leben der Menschheit bedrohenden Gefahren der Umweltvergiftung nur in weltweiter Zusammenarbeit gelöst werden können.

In diesem Zusammenhang möchte ich aus der Rede Breschnews, die er am 26. Oktober auf dem Weltkongress der Friedenskräfte in Moskau gehalten hat, ein Wort zitieren.

Es heißt: Die langen Jahre des kalten Krieges haben ihre Spuren im Bewusstsein der Menschen, und zwar nicht nur bei Berufspolitikern hinterlassen. Es sind die Vorurteile, Argwohn, ungenügende Kenntnis der wirklichen Standpunkte und Möglichkeiten der anderen, ja mangelnder Wille, diese kennenzulernen, und die Umstellung ist gewiss nicht leicht. Man muss lernen zusammenzuarbeiten.

Man sollte diesen Worten Breschnews besondere Beachtung schenken. Friedliche Koexistenz ist unteilbar, das heißt, sie bedeutet nicht nur die Koexistenz von Machtblöcken und Völkern, sondern grundsätzlich auch immer die Koexistenz von Menschen, wie sie in den elementaren Menschenrechten ihren Ausdruck findet.

Unser Staat ist als Mitglied der Vereinten Nationen in die Verantwortung der Durchsetzung der Menschenrechte in allen Kontinenten einbezogen und hat auch die Konvention gegen die Diskriminierung im Bildungswesen angenommen. Mit dem allem, was in unserer Gesellschaft Hilfen und moralische Argumente sind, ist echte Toleranz zu öffnen.

Die christliche Gemeinde sollte in jeder Weise dazu Mut machen und eine umfassende Strategie der Toleranz entwickeln und entfalten.

Wenn ich wiederholt von der christlichen Gemeinde gesprochen habe, dann habe ich dabei nicht in erster Linie an uns Pastoren gedacht, sondern an unsere Laien. Was wären wir denn damals im Kirchenkampf ohne unsere Laien gewesen? Als angesichts der die Kirche verwüstenden Irrlehren nicht nur Pastoren protestierten, sondern die Gemeinden aufstanden, wurde die Bekennende Kirche gegründet.

Als uns das Führerprinzip und der Glaube an Blut und Boden zugemutet wurde, haben wir das rechte Verhältnis von Amt und Gemeinde neu verstehen gelernt, und bekannten die Kirche als die Gemeinde von Brüdern.

Was wir damals gelernt haben, hat heute für die Kirche als Zeugnis- und Dienstgemeinschaft eine besondere Bedeutung.

In einer Zeit, in der alle, die der Kirche hauptamtlich dienen, zunehmend in das gesellschaftliche Abseits geraten, gewinnt der Zeugendienst unserer Laien immer mehr an Gewicht, denn sie sind an Orten unserer Gesellschaft präsent. Sie sind den Amtsträgern weithin unerreichbar geworden. Das aber bedeutet, dass die öffentliche Verkündigung des Evangeliums nicht ohne Rückkopplung zu den Erfahrungen unserer Laien geschehen kann, und dass wiederum unsere Laien der Zurüstung durch ihre Pastoren für ihren Zeugendienst bedürfen. Solche Zurüstung sollte in bruderschaftlichen Kreisen geschehen, in denen alle Beteiligten zugleich Gebende und Nehmende sind und gegenseitig die so notwendige Stärkung im Glauben empfangen.

Das haben wir im Kirchenkampf gelernt.

Lassen Sie mich am Schluss noch das eine sagen: Wir haben gelernt, dass zuletzt doch alles auf den Glauben ankommt, der den Zusagen unseres Gottes traut und sich nicht von den Prognosen seiner Umwelt imponieren lässt. Wir waren in der Bekennenden Kirche im Kirchenkampf gewiss keine Heldengarde, wir waren eine kleine zusammengeschmolzene Schar, aber wir waren kein verlorener Haufen. Gott hat uns doch getragen, Gott hat die damals proklamierten tausend Jahre des Dritten Reiches auf zwölf Jahre zusammengequetscht.

Das sollten wir nicht vergessen. Es sind niemals die von außen die Kirche treffenden Bedrängnisse die schlimmste Gefahr. Viel gefährlicher sind die inneren Anfechtungen, die uns zur Resignation verleiten wollen, jene Sünde des Unglaubens, der nichts mehr zu hoffen wagt.

Aber wir haben keine Veranlassung, der Resignation zu verfallen, denn Christus hält den Posten des Erlösers fest besetzt und denkt nicht daran, ihn zu räumen. Wir brauchen ihn, um uns in unserer Sorge und um unser Kinder Fortkommen und Zukunft nicht zu verzehren, denn wir stehen mit unseren Kindern in Gottes Hand. Er wird auch Wege finden, da kein Fuß stehen kann. Der Segen Gottes in uns und unseren Kindern ist uns mehr wert, als die größte Karriere in unserer Gesellschaft. Wir brauchen nicht mehr dem Wort zu unterliegen, die wie eine Seuche umging, denn der Terrorbrecher Christus ist bei uns.

Das haben wir im Kirchenkampf gelernt.

  1. Zum nächsten Dokument Reaktion auf Neuregelung des Mindestumtauschs

    16. November 1973
    Information Nr. 1173/73 über die Reaktion auf die Neuregelung des verbindlichen Mindestumtausches für Besucher aus nichtsozialistischen Staaten und Westberlin

  2. Zum vorherigen Dokument Verkehrsunfall auf der Autobahn Leipzig– Berliner Ring

    14. November 1973
    Information Nr. 1166/73 über den schweren Straßenverkehrsunfall auf der Autobahn Leipzig – Berliner Ring am 6. November 1973