Berliner Ordinarienkonferenz zum Jugendgesetzentwurf
28. September 1973
Information Nr. 987/73 über die Stellungnahme der Berliner Ordinarienkonferenz zum Entwurf des Jugendgesetzes
Dem MfS wurde intern bekannt, dass die in der Berliner Ordinarienkonferenz1 zusammengeschlossenen katholischen Bischöfe der DDR auf ihrer Sitzung am 21.9.1973 beschlossen haben, in einem Schreiben an den Vorsitzenden des Ministerrates der DDR zum Entwurf des Jugendgesetzes2 Stellung zu nehmen.
Dieses Schreiben soll eventuell schon am 26.9.1973 übergeben werden.
In dieser Stellungnahme, die inzwischen vorliegt und im vollen Wortlaut in der Anlage beigefügt wird, wenden sich die katholischen Bischöfe vor allem gegen das im Jugendgesetz formulierte Ziel der Jugendpolitik und Jugendbildung sowie gegen die Entwicklung der Jugend zu sozialistischen Persönlichkeiten.
Weiter wurde intern bekannt, dass diese Stellungnahme zum Entwurf des Jugendgesetzes seitens der in der Berliner Ordinarienkonferenz zusammengeschlossenen katholischen Bischöfe der DDR Ende Oktober 1973 allen Erzpriestern mit dem Hinweis zur Kenntnis gegeben werden soll, eine Auswertung mit den Geistlichen ihres Dekanats vorzunehmen.
Diese Information ist nur zur persönlichen Kenntnisnahme und wegen Quellengefährdung nicht zur öffentlichen Auswertung bestimmt.
Anlage zur Information Nr. 987/73
Schreiben von Bischof Bengsch an Willi Stoph
Alfred Cardinal Bengsch | Erzbischof | Bischof von Berlin | Berlin, den 21. September 1973
An den | Vorsitzenden des Ministerrates der Deutschen Demokratischen Republik Herrn Ministerpräsident Willi Stoph | Berlin
Sehr geehrter Herr Vorsitzender des Ministerrates!
Seit einigen Wochen ist der Entwurf des Jugendgesetzes veröffentlicht und in allen Gruppen der Bevölkerung zur Diskussion gestellt. Wir, die katholischen Bischöfe in der Deutschen Demokratischen Republik, sehen uns veranlasst, zu diesem Gesetz Stellung zu nehmen, wie wir es bereits zu dem Jugendgesetz von 1964,3 zum Familiengesetz 19654 getan haben, die den Bereich der Familie und Erziehung betreffen.
Grundsätzlich wird es jeder Bürger als positiv bewerten, dass Ausbildung, Förderung und Erziehung der Jugend ein Hauptanliegen des Staates ist. Jeder wird auch die positiven Elemente anerkennen, wie z. B. die geforderte Hinführung zu Verantwortungsgefühl, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Standhaftigkeit. Trotzdem müssen wir einen wesentlichen Einwand erheben.
Das neue Jugendgesetz erklärt eindeutig, das Ziel der Jugendbildung und Jugendpolitik und folglich die Aufgabe aller staatlichen Organe ist die Heranbildung der sozialistischen Persönlichkeit. Es unterliegt keinem Zweifel, dass dieser Begriff der sozialistischen Persönlichkeit, wie er auch in den offiziellen Dokumenten und den Lehrbüchern verstanden wird, von der Sicht des christlichen Glaubens her nicht annehmbar ist, weil er von der Ideologie des Marxismus-Leninismus geprägt ist. Recht und Würde des Menschen als Person kommen nach christlicher Auffassung weder aus dem Arbeitsprozess noch aus seiner ideologischen Einstellung noch aus den sozialen und ökonomischen Verhältnissen, sondern sind allen diesen Bedingungen, und zwar bei allen Menschen, vorgegeben. Wenn dieses Grunddatum der menschlichen Personenwürde nicht akzeptiert wird, dann ist zwar auch ein intensives Bemühen für junge Menschen möglich, aber sie werden als Schöpfung der Gesellschaft betrachtet, als wäre es die Gesellschaft, die ihnen die Personenwürde verleiht.
Die Feststellung in der Präambel des Gesetzes, dass die Interessen der Gesellschaft – wobei unter Gesellschaft die sozialistische mit der eindeutigen Vorherrschaft oder Alleinherrschaft des Marxismus-Leninismus verstanden wird – mit den Interessen der Jugendlichen übereinstimmen, ist keine sachliche Feststellung, sondern eine Zielangabe: Der junge Mensch muss seine Interessen in Übereinstimmung mit denen der Gesellschaft bringen, wenn er als Persönlichkeit anerkannt werden soll. Sofern die gesellschaftlichen Interessen aber auch eine weltanschauliche Prägung verlangen, muss es zu Konflikten und Unrecht kommen. Das in der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik garantierte Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit wird dadurch verletzt.
Allen Eltern, die aus christlicher Überzeugung eine Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit in diesem Sinne nicht akzeptieren können, wird damit faktisch jedes Erziehungsrecht bestritten. Ein Christ kann wohl zum Leben und Arbeiten in einem sozialistischen Staat erzogen werden. Aber der Anspruch des Staates, die Persönlichkeitsbildung vom Politischen, vom Klassenkämpferischen, vom Weltanschaulichen her festzulegen, ist unberechtigt, ist Machtausübung in einem Bereich des menschlichen Lebens, die staatlicher Gewalt nicht zusteht.
In der Diskussion wird dieser Standpunkt gewöhnlich als bürgerliches Relikt bezeichnet, und zwar als konservativster und daher reaktionärster Teil des bürgerlichen Denkens, wozu man das Religiöse rechnet. Diese Sicht ist indessen vereinfachende Propagandapolemik. In Wirklichkeit werden die jungen Menschen – auch nicht religiös erzogene – immer wieder, und jede Generation von Neuem, die Frage nach dem Bild ihrer Persönlichkeit stellen. Wenn sie aber durch eine solche Frage bereits in folgenreiche Konflikte mit der Gesellschaft kommen, wenn die Eltern das bereits für ihre Kinder befürchten müssen und sich in ihrem Elternrecht und dadurch in ihren menschlichen Grundrechten betroffen fühlen, wenn die Familie unter solchen Umständen gegenüber dem gesellschaftlichen Anspruch fast keine Eigenbedeutung mehr hat, dann sollte man bedenken, in welche Not man Menschen bringt, und ob nicht auch deshalb immer wieder Gedanken an Flucht wach werden.
Im Gesetzestext manifestiert sich eine Entwicklung gegenüber dem bisherigen Jugendgesetz, welche die immer weitergehende Vorherrschaft der gesellschaftlichen Interessen über das Leben des Einzelnen erzielt.
Während es im Jugendgesetz vom 4. Mai 1964 § 18 hieß, dass jeder junge Bürger der Deutschen Demokratischen Republik sich zum Studium an einer Universität bewerben kann,5 heißt es in dem neuen Entwurf,6 dass das Studium an einer Universität eine hohe gesellschaftliche Anerkennung und eine persönliche Verpflichtung gegenüber der Arbeiterklasse und dem sozialistischen Staat ist. Von einem Recht auf Bewerbung zum Studium ist daher nicht mehr die Rede, wohl aber davon, dass die Rektoren verpflichtet sind, die Studenten zur Aneignung, Anwendung und Propagierung des Marxismus-Leninismus zu erziehen.7
Die förmliche Beauftragung aller staatlichen Organe, die der sozialistischen Persönlichkeitsbildung feindlichen Einflüsse abzuwehren, und die von allen Lehrbüchern her legitimierte These, dass Religion unter solche feindlichen Einflüsse gerechnet werden kann, bedeuten in letzter Konsequenz, dass christliches Leben und christliche Familie keinen Raum mehr haben.
Unsere öfteren Beschwerden über die Zurücksetzung junger Christen im Bildungswesen – zuletzt haben wir im Januar 1972 eine solche Beschwerde bei der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik abgegeben8 – wurden zu unserem Bedauern meistens nicht beantwortet. Wir müssen leider feststellen, dass nach der Absicht des Gesetzes für einen jungen Christen das Studium in Zukunft kaum mehr möglich sein wird.
Wir sind durchaus bereit, die positiven Fortschritte in dem neuen Gesetz anzuerkennen; so die Erziehung zu gesunder Lebensweise, die medizinische Betreuung der Jugend, die medizinische und soziale Betreuung gesundheitlich geschädigter Jugendlicher und die Hilfe verschiedener Art für junge Eheleute. Aber diese Positiva wiegen nach unserer Auffassung die unabsehbaren Konsequenzen der grundsätzlichen politisch-weltanschaulichen Entscheidung nicht auf. Zusätzlich müssen wir darauf aufmerksam machen, dass die Zuteilung von Vollmachten an die FDJ-Leitungen in allen Bereichen leider keineswegs in der Praxis eine höhere Mitverantwortung der Jugend bedeuten wird, sondern eine noch stärkere Verfügung über Jugendliche nach dem Maßstab ihrer politisch-gesellschaftlichen und weltanschaulichen Einstellung.
Im Zusammenhang mit dem Jugendgesetz ist der Beschluss des Politbüros des Zentralkomitees der SED bedeutsam, in dem bereits für die Kinder die Erziehungsziele – getreu dieser Grundkonzeption – festgelegt werden.9 Dass die jungen Pioniere unmittelbar in den Kampf der Arbeiterklasse einbezogen werden sollen, dass ihre Treue zur Sache der Arbeiterklasse gefördert und ihr Hass gegen den Imperialismus geweckt werden sollen, sind Zielvorstellungen, die sowohl vom Christlichen wie vom Menschlichen her nicht akzeptiert werden können.
Abschließend möchten wir noch einmal darauf hinweisen, dass wir uns bewusst sind, unseren Einspruch dem üblichen Vorwurf auszusetzen, dass wir aus bürgerlicher Tradition reden, die durch die Entwicklung im Sozialismus überholt sei. Als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, die jahrzehntelang in der hiesigen Bevölkerung leben und unzählige persönliche und vertrauensvolle Kontakte mit Kindern, Jugendlichen und Eltern haben, müssen wir diesen Vorwurf zurückweisen. Wir sind überzeugt, im Interesse nicht nur der jungen Christen, sondern der jungen Menschen und zuletzt der Gesellschaft zu reden.
Wir müssen mit allem Ernst darauf hinweisen, dass die ideologische Totalherrschaft im Staat und allen seinen Organen und besonders im ganzen Erziehungswesen nach unserer Auffassung nicht einen Fortschritt, sondern einen Rückschritt darstellt, da sie den Menschen einen Zwang auferlegt, der auf lange Sicht dem Einzelnen und der Gesellschaft schwersten Schaden bringt.
Mit der Bitte um wohlwollende und sachliche Prüfung unseres Einspruchs verbleiben mit vorzüglicher Hochachtung
Die in der Berliner Ordinarienkonferenz versammelten katholischen Bischöfe
gez. Alfred Card. Bengsch Erzbischof | Bischof von Berlin