Energieversorgung Winterhalbjahr 1973/74
[ohne Datum]
Information Nr. 1152/73 über die Versorgungssicherheit mit Elektroenergie, Gas und festen Brennstoffen im Winterhalbjahr 1973/74
Auf der Grundlage von zentralen Beschlüssen des Ministerrates und Festlegungen der Regierungskommission »Energiewirtschaft« wurden im Jahre 1973 bei der Wintervorbereitung bessere Ergebnisse erreicht als in den Vorjahren.1
Die Entwicklung der Kohle- und Energiewirtschaft im Jahre 1973 sichert jedoch für den Winter 1973/74 kein besseres Versorgungsniveau bei Elektroenergie, Gas und festen Brennstoffen als im vorhergehenden Winterhalbjahr, da sich die Diskrepanz zwischen Bedarf und vorhandener Kapazität weiter vergrößert hat.
Die planmäßige Versorgung der Wirtschaft sowie eine ausreichende Deckung des Bevölkerungsbedarfs mit Energieträgern erfordern deshalb
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außerordentliche Anstrengungen in der Kohle- und Energiewirtschaft zur höchsten Ausnutzung der Produktionskapazitäten,
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die planmäßige Realisierung der Importe an Energieträgern,
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die termingemäße Fertigstellung neuer Kapazitäten,
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die konsequente Durchsetzung einer rationellen und sparsamen Energieanwendung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens,
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die Durchsetzung der geplanten Substitution von Braunkohlenbriketts gegen Steinkohle,
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den planmäßigen Abbau der Bestände von festen Brennstoffen in der Wirtschaft, insbesondere im I. Quartal 1974 und
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die Einhaltung der vorgegebenen Leistungsanteile bei Elektroenergie durch die Industrie und der bilanzierten Leistungsabsenkung im nichtmateriellen Bereich
Zu einigen Problemen der Elektroenergie:
Die angespannte Situation in der Versorgung mit Elektroenergie wird sich im Winterhalbjahr 1973/74 weiter verschärfen, da die Differenz zwischen Bedarf und Aufkommen auf ca. 1 200 MW angewachsen ist.
(Einem Leistungsbedarfszuwachs von 825 MW im Dezember 1973 gegenüber Dezember 1972 steht nur ein versorgungswirksamer Kapazitätszuwachs von 590 MW gegenüber.)
Mit dem Anwachsen des Defizits müssen die in den letzten Jahren wirksam gewordenen Maßnahmen zur Begrenzung der Leistungsinanspruchnahme in der Industrie und im nichtmateriellen Bereich erweitert werden:
Bedarfseinschränkung (MW) | Industrie | nichtmaterieller Bereich | insgesamt |
|---|---|---|---|
Dezember 1972 | 150 | 750 | 900 |
Dezember 1973 | 350 | 800 | 1 150 |
Da die bilanzierten Bedarfseinschränkungen dem Plan 1973 und 1974 entsprechen, konnte eine langfristige Vorbereitung in der Industrie und im nichtmateriellen Bereich erfolgen.
Da bei der Berechnung des Aufkommens jedoch von einer hohen Verfügbarkeit ausgegangen wurde und der Probebetrieb aus dem Neubauprogramm2 bereits mit einbezogen ist, wird die Bereitstellung von Elektroenergie für das Winterhalbjahr 1973/74 von Experten als risikobehaftet eingeschätzt.
Bei komplizierten Witterungsbedingungen oder größeren Kraftwerksstörungen ist deshalb mit einer möglichen operativen Bedarfseinschränkung durch Anwendung des »Stufenprogramms Elektroenergien«3 zu rechnen.
Mit diesem Stufenprogramm, welches am 1.10.1973 in Kraft getreten ist, werden die Steuerung und Regelung des Versorgungsprozesses mit Elektroenergie in komplizierten Situationen gewährleistet und Bevölkerungsabschaltungen vermieden.
(Die Anwendung aller im Stufenprogramm enthaltenen Maßnahmen ermöglicht eine maximale Bedarfseinschränkung bis zu 2 000 MW, was für rund 5 300 Betriebe eine 43%ige Reduzierung des Bilanzanteils ihrer elektrischen Leistung bedeutet und Produktionsstillstände bestimmter Bereiche dieser Betriebe nach sich zieht.)
Hinzu kommt noch, dass trotz aller getroffenen Maßnahmen zur Herstellung der Versorgungssicherheit für das Winterhalbjahr 1973/74 nach Meinung von Fachleuten bei einigen Großkraftwerken nicht die volle Gewähr für einen stabilen Betrieb in den nächsten Monaten gegeben und das bilanzierte Aufkommen damit insgesamt noch nicht gesichert sei.
So wird die Situation in der Versorgungssicherheit bei ausgewählten Kraftwerken von Fachleuten wie folgt eingeschätzt:
Im VEB Kraftwerk Boxberg4 wird das Betriebsgeschehen infolge von Mängeln in der Leitungstätigkeit nicht voll beherrscht.
Das drückt sich insbesondere in schleppender Realisierung getroffener Festlegungen, mangelnder Konsequenz bei Pflichtverletzungen und in zum Teil erheblichen Mängeln bei der Sauberkeit der Anlagen aus.
Diese Unzulänglichkeiten in der Leitungstätigkeit, die sich auch in der oftmals ungenügenden Beachtung von Hinweisen und berechtigten Kritiken der Werktätigen ausdrücken, haben in einigen Kollektiven des Betriebes teilweise zu Gleichgültigkeit und Disziplinlosigkeit beigetragen.
Sichtbarer Ausdruck einer ungenügenden Leitungstätigkeit sind beispielsweise die Nichterreichung der Arbeitsfähigkeit des Operativstabes bei der Auslösung des Winteralarms durch die VVB Kraftwerke am 25.9.1973 und die nicht gesicherte Kohlezuführung.
Sowohl die rasche Folge von Inbetriebnahme neuer Kapazitäten, die zunehmend zu Schwierigkeiten in der leitungsmäßigen und personellen Beherrschung des Produktionsprozesses führte, als auch das Störungsgeschehen mit überwiegend subjektiven Ursachen gewährleisten nach übereinstimmenden Meinungen von Experten derzeitig keine umfassende Sicherheit für einen stabilen Winterbetrieb dieses Kraftwerkes.
Der VEB Kraftwerk Boxberg wurde deshalb zum Tag der Winterbereitschaft5 als nicht winterfest erklärt.
Im VEB Kraftwerk Hagenwerder III ergeben sich in Vorbereitung der ersten Netzschaltung der 500-MW-Blockeinheit im Dezember 1973 Schwierigkeiten bei der Zuführung erforderlicher Arbeitskräfte, insbesondere für die Bereiche BMSR-Technik und Außenanlagen.6
Demzufolge ist die aus dem Probebetrieb bilanzierte Leistung für das I. Quartal 1974 noch nicht gesichert.
Die im VEB Kraftwerk Thierbach7 für die Wintermonate geplante Verfügbarkeit von 70 % ist bisher noch nicht erreicht worden. Das Ansteigen der Störungshäufigkeit bei den 210-MW-Blockanlagen in den letzten Monaten stellt die geplante Verfügbarkeit und damit die kontinuierliche Elektroenergieerzeugung für den Winter infrage.
Die von Experten gefertigten letzten Störungsanalysen fordern mit aller Dringlichkeit insbesondere der weiteren Qualifizierung des Bedienungs- und Instandhaltungspersonals der Blockanlagen sowie dessen stärkerer Erziehung zu Disziplin und Ordnung erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken.
Die Situation auf dem Gebiet der Gasversorgung:
Bei Stadtgas steht einem Bedarfszuwachs von ca. einer Mio. m³/d nur ein gleich großer Kapazitätszuwachs gegenüber. Damit bleibt das Kapazitätsdefizit von 0,6 Mio. m³/d zwischen dem bilanzierten maximalen Bedarf von 21,3 Mio. m³/d im Januar 1974 und dem maximalen Aufkommen von 20,7 Mio. m³/d im gleichen Zeitraum bestehen.
Das zur Stadtgasbedarfsdeckung bilanzierte Maximalaufkommen setzt allerdings die volle Verfügbarkeit bei allen Erzeugern voraus.
Einschränkend auf diese Verfügbarkeit wirken jedoch gegenwärtig insbesondere folgende Faktoren:
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In den Bereichen Druckgaswerk und Kokerei des VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe8 sind infolge Arbeitskräfte- und Materialmangel Reparaturrückstände eingetreten, die im IV. Quartal 1973 aufgeholt werden müssen. Ursprünglicher Fertigstellungstermin war der 30.9.1973.
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In der Dampfbilanz des Kombinates und in der Gaserzeugung gibt es gegenwärtig keine Kapazitätsreserven. Bereits geringfügige Störungen können zu Produktionsverlusten und damit zu Versorgungsausfällen führen.
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Da für die Qualitätssicherung der neuen Mischgastechnologie in Böhlen und der Spalttechnologie im Bereich der VVB Energieversorgung nach Meinung von Fachleuten noch keine ausreichenden Garantien vorliegen, können Schwierigkeiten bei der Erreichung der bilanzierten Stadtgasleistung auftreten.
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In der Großgaserei Magdeburg9 ergeben sich mit der Rekonstruktion einer Batterie und durch die Verschiebung der Inbetriebnahme eines 25-atü-Verdichters in das Jahr 1974 Engpässe in der Abförderkapazität.
Die erforderliche Verdichterkapazität für maximale Produktion ist zwar installiert, erfordert aber aufgrund des Alters der Anlage einen hohen Wartungsaufwand mit entsprechenden Stillstandszeiten. Dadurch ist zumindest mit einem zeitweiligen Absinken der verfügbaren Verdichterkapazität unter die erforderliche Verdichterleistung zu rechnen.
Neben vorgenannten Problemen ist jedoch generell zu beachten, dass das bilanzierte Maximalaufkommen selbst bei störfreiem Produktionsverlauf nur für wenige Tage erreichbar ist.
(Nach Erfahrungen der letzten Jahre treten im Winter Kälteperioden mit Tagesdurchschnittstemperaturen von -13° C an bis zu drei bis vier Tagen hintereinander und ca. zwei- bis dreimal auf. In diesen Fällen ist bei Eintreten des Maximalbedarfs von 21,3 Mio. m³/d die Anwendung des »Stufenprogramms Stadtgas« erforderlich, in dem verbrauchseinschränkende Maßnahmen bis zu 1,5 Mio. m³/d vorgesehen sind.)
Die mit der UdSSR für das IV. Quartal 1973 vertraglich vereinbarten Importerdgaslieferungen für die DDR in Höhe von 570 Mio. m³ werden auf Entscheidung des sowjetischen Partners voraussichtlich nur mit 503 Mio. m³ realisiert.
Für das I. Quartal 1974 liegt auf der Grundlage des Jahresvertrages noch kein Lieferangebot vor. Es ist zu erwarten, dass sich aus den Lieferreduzierungen im IV. Quartal 1973 auch Konsequenzen für die ab Januar 1974 um ca. 35 % höher als im IV. Quartal 1973 geplanten Importe ergeben.
Durch diese Situation ist die Versorgung der Kraftwerke Trattendorf, Lippendorf und Zschornewitz sowie der Leuna-Werke10 und des Stickstoffwerkes Piesteritz mit Erdgas ernsthaft gefährdet.
(Die im IV. Quartal 1973 ausgefallenen Erdgaslieferungen von ca.70 Mio. m³ entsprechen einem Wärmeäquivalent von 250 Kt Braunkohle, deren zusätzliche Förderung insbesondere im Raum Halle/Leipzig noch nicht gesichert ist.)
Die Rohkohleversorgung genannter Kraftwerke wird operativ in die Monatsbilanzen eingeordnet.
Bei festen Brennstoffen werden im Winter 1973/74 trotz Übererfüllung der Produktionsaufgaben keine höheren Bestände in der Wirtschaft als im Vorjahr erreicht.
Im I. Quartal 1974 werden die Bestände auf ein Minimum abgebaut. Bei einem strengeren Winter als im Vorjahr muss die Versorgung mit festen Brennstoffen wieder operativ gesteuert werden.
Bei Rohbraunkohle besteht für das IV. Quartal 1973 gegenwärtig noch ein Defizit in Höhe von rund 0,7 Mio. t, während für das I. Quartal 1974 rund 12 Mio. t noch nicht abgedeckt sind. Dieses Defizit könnte sich durch die Reduzierung an Importerdgas noch erhöhen.
Das geplante Normativ an Beständen sofort greifbar freigelegter Kohle wurde im III. Quartal 1973 in zehn Tagebauen nicht erreicht. Die Rückstände konzentrieren sich insbesondere auf solche Förderräume, wo die Bestände technologisch bedingt schon niedrig sind.
Die Bestände in den Förderräumen Glückauf/Schwarze Pumpe, Lauchhammer/Senftenberg und Borna/Regis/Espenhain reichen nicht aus, um unter komplizierten Bedingungen jederzeit eine stabile Versorgung der Verbraucher zu gewährleisten.
Wie von Fachleuten zur Versorgung mit festen Brennstoffen insgesamt eingeschätzt wird, ist eine planmäßige Versorgung von Bevölkerung und Wirtschaft nur unter den Bedingungen
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einer sparsamen Brennstoffverwendung,
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der Durchsetzung der Substitution von Braunkohlenbriketts gegen Steinkohle und
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des Reduzierens der Kohlebestände in den Kraftwerken auf ein risikovolles Minimum
möglich.
Die Lage bei allen Energieträgern wird noch dadurch verschärft, weil gegenwärtig auf entscheidenden Gebieten keine ausreichenden Garantien für eine planmäßige Gestaltung des Versorgungsprozesses im Winterhalbjahr 1973/74 geschaffen werden konnten.
Der Bedarf der Kohle- und Energiewirtschaft an Material, Ausrüstungen sowie Ersatz- und Verschleißteilen konnte 1973 in wesentlichen Positionen nicht voll gedeckt werden. Auch für 1974 zeichnen sich bereits jetzt Schwierigkeiten ab, die nicht innerhalb eines kurzen Zeitraumes zu lösen sind.
So konnte der Bedarf an ausgewählten Schwerpunktmaterialien wie z. B. 110-KV-Trennern, SGI-Schaltern, HS-Zellen, Ersatz- und Verschleißteile für Tagebaugroßgeräte und Kraftwerksausrüstungen nicht voll in die Bilanzen 1973 bzw. erst für einen späteren Zeitraum eingeordnet werden.
Die nicht volle Bereitstellung nach Menge, Sortiment und Terminen bei vorgenannten Materialien führte dazu, dass
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die erforderlichen Störreservebestände nicht in jedem Fall den Normativstand erreichten, was zur Risikofahrweise der Anlagen im Winter und zur Einschränkung der Reaktionsfähigkeit bei Störungen führt,
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die Gerätestabilität durch Verschiebung geplanter Generalreparaturen nicht in vollem Umfang erreicht wird,
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technische Provisorien unter Inkaufnahme von Effektivitätsverlusten geschaffen wurden und
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Programme zur Beseitigung von Schwachstellen im Elektroenergieverbundsystem nicht voll realisiert werden konnten.
In den Betrieben der Kohle- und Energiewirtschaft fehlten im III. Quartal 1973 noch ca. 4 000 Produktionsarbeiter zur Besetzung von Anlagen und Geräten sowie zur Instandhaltung von Produktionskapazitäten. Es fehlen z. B. in der Instandhaltung ca. 1 000 Produktionsarbeiter. Die planmäßige Durchführung von Generalreparatur- und Rekonstruktionsmaßnahmen ging zulasten der vorbeugenden Instandhaltung. Gegenwärtig vorliegende Anzeichen der Zunahme von Störungen sind z. T. auf diese Tatsache mit zurückzuführen.
Zur Sicherung des dringenden Arbeitskräftebedarfs für die Wintermonate erscheint es notwendig, Arbeitskräfte durch eine überzeugende Aufklärungsarbeit aus den Verwaltungen der Betriebe der Energiewirtschaft sowie aus Verwaltungen anderer Einrichtungen und aus der Landwirtschaft zumindest für das Winterhalbjahr 1973/74 zu gewinnen.
Es könnte sich dabei allerdings nur um eine Übergangslösung handeln, die trotzdem keine volle Gewähr für den stabilen Winterbetrieb bietet. Eine grundsätzliche Lösung der prekären Arbeitskräftelage der Energiewirtschaft musste unabhängig davon angestrebt werden.