Flugblätter und Losungen bei Reichsbahn in Westberlin
7. April 1973
Information Nr. 329/73 über die Verteilung von Flugblättern und das Anbringen von Losungen mit Lohnforderungen in Westberliner Reichsbahneinrichtungen am 2. April 1973
Ergänzend zu den in der Information Nr. 268/73 vom 14.3.1973 genannten Fakten über die Verteilung von Flugblättern des sogenannten »Initiativausschusses, Kampf der Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Eisenbahner«1 wurde dem MfS zuverlässig bekannt:2
Bereits in einer Dienstbesprechung am 29.3.1973 wurde im RAW Grunewald den Dienstvorstehern, Gewerkschaftsvorsitzenden und Parteisekretären bekannt gegeben, dass ab 1.6.1973 lohnerhöhende Maßnahmen für Westberliner Eisenbahner3 in durchschnittlicher Höhe von 140 DM (DBB) wirksam werden.4
In den Morgenstunden des 2.4.1973 wurden erneut, ähnlich den Vorkommnissen am 13.3. bzw. 14.3.1973, Flugblätter verteilt und an verschiedenen Stellen des Reichsbahngeländes Losungen geschmiert.
Die Verteilung von Flugblättern erfolgte nach bisher bekannt gewordenen Hinweisen vor dem Eingang des RAW Grunewald sowie auf den Bahnhöfen Zoologischer Garten, Sonnenallee und Südende.
In dem Flugblatt ruft der sogenannte Initiativausschuss zu einer Versammlung am 9.4.1973 in Berlin-Kreuzberg, Oranienstraße, Gaststätte »Max und Moritz«, auf. Während der Versammlung soll die Forderung nach rückwirkender Zahlung der Lohnerhöhung ab 1. Januar 1973 für Westberliner Eisenbahner bekräftigt werden.
Die Losungen waren angebracht an der Avus-Überführung in der Nähe des S-Bahnhofes Eichkamp, im Tunnel des S-Bahnhofes Gesundbrunnen und an der Brücke des S-Bahnhofes Papestraße.5
Sie beinhalteten die Forderung nach sofortiger Zahlung von 150 DM netto für alle Eisenbahner.
(Die Losungen waren zwischen 15 und 25 m lang und in einer Buchstabenhöhe von 60 cm gefertigt.)
In diesem Zusammenhang wurde bekannt, dass am 25.3.1973 im Lokal »Emdener Mitte«, Berlin-Tiergarten, Emdener Straße, eine Zusammenkunft des sogenannten Initiativausschusses stattfand, die von einem Mitglied der trotzkistischen Gruppierung in Westberlin (KPD/ML6) organisiert wurde.
Während dieser Zusammenkunft kam es im Lokal zu tätlichen Auseinandersetzungen mit einer Gruppe jugendlicher Anarchisten.
Diese Gruppe jugendlicher Anarchisten drang mit der Absicht in die Beratung ein, die Zusammenkunft zu stören.
Durch die Westberliner Dienststellen der Deutschen Reichsbahn wurden Maßnahmen zur Gewährleistung und Aufrechterhaltung der vollen Betriebsbereitschaft und zur Abwendung der Machenschaften dieser trotzkistischen Kräfte eingeleitet.
Anlage zur Information Nr. 329/73
Kampfausschuss. Gegen die Verschlechterung der Arbeiter- und Lebensbedingungen der Eisenbahner
Gegen die Verschlechterung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Eisenbahner
Am Donnerstag gab die Reichsbahndirektion eine Lohnerhöhung zwischen 140 und 170 DM bekannt.
Wie kam es zu dieser Lohnerhöhung? Was bedeutet sie für uns?
Die Lohnerhöhung bedeutet für die Mehrzahl der Kollegen eine durchschnittliche Brutto-Erhöhung von 150 DM ab 1. Juni, d. h. netto 100 DM mehr ab 1. Juli. Zu diesem Zeitpunkt werden die Preissteigerungen einen neuen Höhepunkt erreicht haben: Ein Liter Benzin wird dann fast eine Mark kosten. Die Lohnerhöhung ist durch die Preissteigerungen schon fast wieder aufgefressen.
Deshalb müssen wir an unserer Forderung nach rückwirkender Zahlung der Lohnerhöhung festhalten.
Mit der Forderung nach rückwirkender Zahlung der Lohnerhöhung müssen wir den Kampf aufnehmen gegen die Praxis der Reichsbahndirektion, den Zeitpunkt von Lohnerhöhungen nach ihrem Belieben zu bestimmen. Wir müssen uns die Lohnerhöhungen dann erkämpfen, wenn wir sie brauchen, dann wenn die Kapitalisten die Preise in eine unerträgliche Höhe geschraubt haben. Der Kampfausschuss wird deshalb am Montag den 9. April eine öffentliche Versammlung abhalten, Gasthaus »Max und Moritz« in Kreuzberg, Oranienstraße, um 19 Uhr, um mit allen fortschrittlichen Kollegen zu beraten, wie wir eine sofortige Lohnerhöhung und die rückwirkende Zahlung durchsetzen können.
Sofortiges Inkrafttreten der Lohnerhöhung! | Rückwirkende Lohnerhöhung ab 1. Januar 1973! | Wie kam es zu dieser Lohnerhöhung?
Die Verteilung unseres Programms vor den beiden RAW hat überdeutlich gezeigt, wie isoliert die FDGB7- und SEW-Führer8 sind. Jeweils über eine Stunde versuchten sie, die Kollegen daran zu hindern, Flugblätter zu nehmen, ohne einen einzigen Erfolg. Ihre Isolierung ging so weit, dass ein Bahnpolizist (die BaPo untersteht direkt der Politabteilung),9 als er instruiert wurde, gegen die Verteiler auf den Bahnhöfen vorzugehen, als erstes voll Interesse fragte, »Haben Sie nicht so ein Flugblatt?« Wie die Pest fürchten die SEW-Führer, dass durch die Zustände der Reichsbahn entlarvt wird, welchen Charakter die »Mitbestimmung« der SEW-Führer hat: Mitbestimmung bei der eigenen Unterdrückung.
Mit allen Mitteln versuchten sie, die Bildung eines Kampfausschusses zu verhindern. Am Sonntag, den 25.3.[1973] setzten sie einen an der Gedächtniskirche aus Lumpenproletariern zusammengekauften Schlägertrupp von 30 Mann unter der Maske der »Schwarzen Zelle« gegen den Kampfausschuss in Bewegung. Die gekauften Elemente versuchten, die Gründungssitzung zu sprengen, eine Vietnam-Spendenbüchse zu rauben und das Lokal zu demolieren.
Zwei ihrer Anführer und ein weiteres Mitglied der Bande wurden von Kollegen als Mitglieder der SEW erkannt.
Der Kampfausschuss wurde dennoch gegründet. Kollegen, die zunächst nur gekommen waren, um sich zu informieren, sagten, jetzt sähen sie klarer:
Kampf den Arbeiterverrätern in DGB-, FDGB- und SEW-Führung!
Kampf der Preistreiberei des SPD-Senats!
Für die revolutionäre Einheit der Arbeiterklasse!
Der Kampfausschuss diskutierte auch die Rolle der SEW im Kampf gegen die Preistreiberei des SPD-Senats und der SPD/FDP-Regierung. Die SEW täuscht und spaltet die Arbeiterklasse. Sie verbreitet Illusion über den Weg und das Ziel unseres Kampfes.
Es gibt keinen Lohnraubbeschluss der DGB-Führer, dem die SEW-Führer nicht zugestimmt hätten. Selbst vor Denunziation schrecken sie nicht zurück. So stimmte das SEW-Mitglied im Landesvorstand der DRUPA10 Diter Schölz für den Ausschluss der beiden fortschrittlichen DJU11-Vorstandsmitglieder Mettke und Reisner.12
Das Geschwätz von »mehr Arbeiterrechte in Betrieb, Wirtschaft und Gesellschaft« usw., das ganze Geschwätz von »Mitbestimmung« wird in unserem Betrieb sehr durchsichtig. Genau wie die DGB-Führer jedem Lohnraub zustimmten, hat die Bezirksgewerkschaftsleitung im letzten Jahr dem Lohnraub der Prämienkürzung zugestimmt und kein BGL-Vorsitzender hat dem widersprochen. Oder hat etwa in diesem Jahr ein BGL-Vorsitzender eine Versammlung der Kollegen einberufen, um über die Lohnsituation zu beraten. Ist die Praxis der BGL Lichterfelde-West nicht allgemein, Überstunden durch Blanko-Genehmigungen zuzustimmen?
Wenn wir uns jetzt 150 DM erkämpften, ist das einzig ein Erfolg unseres Kampfes. Deshalb werden wir auch am 1. Mai dort demonstrieren, wo es um den Zusammenschluss aller kämpferischen, oppositionellen Gewerkschafter zu einer revolutionären Kampffront geht.
Der Kampfausschuss ist dem Maikomitee oppositioneller Gewerkschafter13 beigetreten und ruft alle fortschrittlichen Kollegen auf, am 1. Mai in Moabit und Wedding zu demonstrieren.
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