Grenzvorkommnis mit sowjetischen Soldaten
1. August 1973
Information Nr. 747/73 über ein Vorkommnis im Rahmen der ausgelösten Fahndung nach einem Angehörigen der sowjetischen Streitkräfte in der DDR am 30. Juli 1973
Am 30.7.1973, gegen 23.50 Uhr, wurde der Angehörige der Deutschen Volkspolizei Leutnant der VP Brechlin, Waldemar,1 geboren [Tag, Monat] 1926, wohnhaft Luppa, Kreis Oschatz, [Straße, Nr.], Abschnittsbevollmächtigter in Dahlen, Kreis Oschatz, Angehöriger der DVP seit 15.6.1948, Mitglied der SED seit 1948, verheiratet, zwei Kinder (22, 20 Jahre), von einem Angehörigen der Sowjetarmee durch Schüsse aus einer MPi schwer verletzt.
Genosse Brechlin erhielt je einen Durchschuss durch beide Oberschenkel, einen Bruststreifschuss und eine Schussverletzung am rechten Daumen. Es erfolgte die umgehende Einlieferung in das Bezirkskrankenhaus »St. Georg« Leipzig. Nach Angaben der behandelnden Ärzte sind bei den Durchschüssen der Beine keine Knochen-, Gefäß- und Nervenverletzungen erfolgt. Es besteht keine Lebensgefahr. Leutnant Brechlin ist noch nicht vernehmungsfähig.
Die Untersuchungen des MfS zum Ablauf des Vorkommnisses ergaben:
Leutnant Brechlin befand sich unter Benutzung seines Mopeds befehlsgemäß auf dem Weg zu dem im Rahmen der eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen an der Straßengabelung Börln – Ochsensaal, Kreis Oschatz, eingerichteten Kontrollpunkt der Deutschen Volkspolizei.
Nach Angaben des Leiters des Kontrollpunktes der Deutschen Volkspolizei, Leutnant der VP Schädlich,2 und der anderen am Kontrollpunkt aufhältlichen VP-Angehörigen wurde um 23.50 Uhr ein »Stoi«-Ruf wahrgenommen.
Unmittelbar danach fielen mehrere Feuerstöße aus einer MPi, nach deren Verstummen Hilferufe gehört wurden.
Die am VP-Kontrollpunkt aufhältlichen VP-Angehörigen gingen nach der Feuereröffnung sofort in Deckung und bewegten sich anschließend gedeckt in Richtung des Tatortes, der sich ca. 300 m südlich des VP-Kontrollpunktes befand und an dem sie den durch Schüsse verletzten Leutnant Brechlin fanden.
Am Ereignisort befanden sich zu dieser Zeit vier Angehörige der Sowjetarmee, die zu verstehen gaben, dass durch sie die Schüsse auf die ihnen bis dahin unbekannte Person abgegeben wurden.
(In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass drei Angehörige der Sowjetarmee gegen 23.30 Uhr am Kontrollpunkt der Deutschen Volkspolizei erschienen waren, vermutlich um eine Auskunft einzuholen. Es kam jedoch keine sprachliche Verständigung zustande.
Die drei Angehörigen der Sowjetarmee hatten sich danach in Richtung des späteren Ereignisortes wieder entfernt.)
Nach Beteiligung an der ersten medizinischen Hilfeleistung entfernten sich die vier Angehörigen der Sowjetarmee vom Ereignisort und begaben sich zu dem gemeinsamen Führungspunkt nach Schöna, um Meldung über das Vorkommnis zu erstatten.
Seitens des Angehörigen der Sowjetarmee, der die Schüsse abgegeben hatte, wurde zum Tatgeschehen angegeben, dass der am Tatort mit drei weiteren Angehörigen der Sowjetarmee eingesetzte Postenführer (Sergeant) eines gedeckten Postens bei Annäherung des Fahrzeuges allein auf die Straße lief und versuchte, den Fahrer des Mopeds durch Handzeichen zum Halten zu bringen. Seinen eigenen Angaben zufolge sei er durch die Blendwirkung des Scheinwerfers am Moped sowie durch das Fahrverhalten der Person zu der Auffassung gelangt, dass er angefahren werde, weshalb er zur Seite sprang. Da die Person weiterfuhr, vermutete der Sergeant, dass es sich um das Fahndungsobjekt handelt, worauf er aus der MPi einen Feuerstoß in die Luft und danach gezielte Schüsse (27) abgab.
Eine Befragung des Leutnants der VP Brechlin zu seinen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen konnte noch nicht durchgeführt werden.
Im Ergebnis der Überprüfung der im Rahmen der ausgelösten Fahndung getroffenen Maßnahmen und der Festlegungen des Zusammenwirkens aller eingesetzten Kräfte ist festzustellen:
Durch Befehl des Chefs der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Leipzig, Genosse Oberst Michalski,3 wurde am 30.7.1973 zur Führung des Fahndungseinsatzes eine Führungsgruppe unter Leitung des Stellvertreters Operativ des Chefs der BDVP, Genosse Oberstleutnant Richter,4 gebildet, die gegen 12.00 Uhr in Schöna, Kreis Oschatz, einen Führungspunkt bildete.
Zu diesem Zeitpunkt waren bereits erste Fahndungsmaßnahmen zwischen dem Kommandeur der sowjetischen Einheit in Mockrehna und den Leitern der VPKÄ Eilenburg und Torgau getroffen worden, wie die Aufbereitung der Fahndungswerte und die Einleitung erster Such- und Blockierungsmaßnahmen.
Um 12.30 Uhr erfolgte nach gemeinsamer Beurteilung der Lage die Beratung weiterer Maßnahmen der Fahndungsführung im Beisein von Genosse General Pawlenkow5 und dem Kommandeur der sowjetischen Einheit in Mockrehna.
Im Einzelnen wurden folgende Maßnahmen festgelegt:
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Einsatz von Posten der Sowjetarmee als Doppel- und gedeckte Posten in einem konkret festgelegten Raum unter exakter Abgrenzung der Verantwortungsbereiche zu den Kräften der Deutschen Volkspolizei;
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Einsatz von Kräften der Deutschen Volkspolizei zu weiteren Such- und Blockierungsmaßnahmen, Kontrolle von Unterschlupfmöglichkeiten und Einrichtung beweglicher Kontrollpunkte der VP zur Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben;
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Absprache gemäß Grundsatz des Einsatzes:
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gemeinsame Parole,
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Anwendung der Schusswaffen,
(Es wurde festgelegt: Schießen nur bei Notwendigkeit, wenn erkennbar ist, dass der Flüchtige die Waffe anwendet.) - •
Tragen von Armbinden durch die Kontrolloffiziere,
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einheitliche Kopfbedeckung (Stahlhelm) der Absperr- und Suchkräfte.
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Auf einer erneuten Lagebesprechung wurden um 18.00 Uhr weitere gemeinsam abgestimmte Festlegungen
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für den Einsatz der Kräfte während der Nachtzeit, insbesondere für den Einsatz von motorisierten Streifen und Horchposten der Deutschen Volkspolizei und von Beobachtungs- und Horchposten der Sowjetarmee,
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sowie die Einrichtung von festen Kontrollpunkten der Deutschen Volkspolizei zur Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben (Kontrolle von Personen und Kraftfahrzeugen u. a.) an der Begrenzung des geschaffenen Blockierungsraumes
getroffen.
Zur Festlegung und Absicherung dieser Maßnahmen diente ein Kartenblatt 1 : 50 000 der DVP und 1 : 100 000 der Sowjetarmee des Handlungsraumes.
Sämtliche Festlegungen über die Einsatzorte der Kräfte der DVP und der Sowjetarmee wurden auf der Arbeitskarte im gemeinsamen Führungspunkt in Schöna eingetragen und abgestimmt.
Im Beisein der Offiziere der Sowjetarmee erfolgte die Übertragung der festgelegten Standorte der Posten auf die Kartenblätter durch General Pawlenkow persönlich.
Der Vergleich der Eintragungen auf der Karte des Führungspunktes mit den Eintragungen auf den Kartenblättern des Genossen General Pawlenkow ergab Übereinstimmung.
Die sofort nach Bekanntwerden des Vorkommnisses geführten Überprüfungen und die Rekonstruktion des Vorkommnisses ergaben, dass der ca. 300 m südlich des Kontrollpunktes der Deutschen Volkspolizei gelegene gedeckte Posten der Sowjetarmee in der Stärke l : 3 entgegen den getroffenen Festlegungen und ohne Wissen des Leiters der gemeinsamen Führungsgruppe in Schöna an diesem Ort eingesetzt worden war.
(Der festgelegte und abgestimmte Einsatzort dieses gedeckten Postens befand sich, wie in den taktischen Karten auch eingetragen, ca. 300 m nordwestlich des Tatortes, an einer Gabelung der Straße Börln – Frauwald.)
In einer Besprechung bei Genossen General Pawlenkow in der Dienststelle der Sowjetarmee in Mockrehna wurde von ihm im Zusammenhang mit dem Vorkommnis festgestellt, dass die Einweisung der verantwortlichen Offiziere der Sowjetarmee entsprechend den Festlegungen der Führungsgruppe erfolgt sei;
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dass vermutlich durch einen Offizier der Sowjetarmee der Posten ca. 300 m südlicher als festgelegt eingesetzt worden sei (zu den Ursachen erfolgten keine Angaben);
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dass die eingesetzten Kräfte der Sowjetarmee ausdrücklich angewiesen worden seien, keine Kfz-Kontrollen vorzunehmen;
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dass die Anweisung für Horch- und gedeckte Posten darin bestanden hätte, alle Fußgänger zu beobachten, um festzustellen, ob es sich um das gesuchte Objekt handelt und im zutreffenden Falle dessen Festnahme vorzunehmen;
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dass alle Posten der Sowjetarmee angewiesen worden seien, das Magazin in der Magazintasche zu tragen und die Waffen weder durchzuladen noch zu unterladen.
Die Rekonstruktion des Vorkommnisses und die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen haben ergeben, dass die gemeinsam festgelegten Maßnahmen der Fahndungsführung und des abgestimmten Vorgehens den Erfordernissen der Lage entsprochen haben.
Das Vorkommnis wurde offensichtlich durch Mängel in der Einweisung der Kräfte der Sowjetarmee in ihre konkreten Aufgaben und Verhaltensweisen begünstigt.
Diese Tatsache wird u. a. dadurch unterstrichen, dass die vom Genossen General Pawlenkow getroffenen – und mit der Führungsgruppe abgestimmten – Maßnahmen zum taktischen Vorgehen nicht eingehalten wurden.
Die Durchführung polizeilicher Maßnahmen (Versuch des Anhaltens der auf dem Moped fahrenden Person) ist, ebenso wie die den Festlegungen widersprechende Schusswaffenanwendung, ein grober Verstoß gegen die befohlenen, gemeinsam festgelegten und abgestimmten Verhaltensregeln.
Es wird gebeten, das Vorkommnis gründlich auszuwerten, um derartige Zwischenfälle bei weiteren gemeinsamen Maßnahmen auszuschließen.