Haltung Polens zum DDR-Einsatz polnischer Arbeitskräfte
13. Juni 1973
Information Nr. 540/73 über die Haltung staatlicher Organe der VR Polen zu grundsätzlichen Fragen des Einsatzes polnischer Arbeitskräfte in der Volkswirtschaft der DDR
Dem MfS wurde zuverlässig bekannt, dass sich staatliche Organe der VR Polen mit Problemen des Einsatzes polnischer Arbeitskräfte in der Volkswirtschaft der DDR befassten. Dabei wurden im Wesentlichen folgende Auffassungen vertreten:
Sowohl der gegenwärtige Stand als auch die weitere Perspektive des Einsatzes polnischer Arbeitskräfte in der Volkswirtschaft der DDR sollten für beide Seiten Anlass sein, sich gründlicher mit dieser Problematik auseinanderzusetzen.
Eine Analyse der gegenwärtigen und künftigen wirtschaftlichen Entwicklung der DDR lasse immer deutlicher erkennen, dass das Arbeitskräfteproblem einen neuralgischen Punkt darstelle.
Daraus würde sich für die DDR auch in den Folgejahren die Notwendigkeit ableiten, das Erreichen der geplanten volkswirtschaftlichen Zielstellung u. a. auch durch den Transfer von Arbeitskräften aus anderen sozialistischen Staaten zu sichern.
Da sich jedoch der Einsatz von Arbeitskräften aus anderen sozialistischen Staaten in dem von der DDR angestrebten Umfang als unreal erwiesen habe, müsse die VR Polen, die über das größte Arbeitskräftepotenzial verfüge, damit rechnen, dass die DDR alle Möglichkeiten nutzen werde, die komplizierte Arbeitskräftesituation durch verstärkten Einsatz insbesondere polnischer Arbeitskräfte weitgehend zu kompensieren.
In diesem Zusammenhang werde jedoch die polnische Seite darauf aufmerksam machen müssen, dass einem Transfer polnischer Arbeitskräfte in die DDR im Interesse der Entwicklung der Volkswirtschaft der VR Polen objektive Grenzen gesetzt seien.
Im Vordergrund dürfe nicht mehr die Frage nach der Erhöhung der Anzahl der polnischen Arbeitskräfte stehen, sondern vielmehr deren rationeller und effektiver Einsatz in der Volkswirtschaft der DDR.
Unter diesem Aspekt sollten beide Seiten gründlich prüfen, ob sich die bisher praktizierten Formen und Methoden des Einsatzes polnischer Arbeitskräfte in der DDR bewährt haben. Von polnischer Seite aus sollten insbesondere Überlegungen darüber angestellt werden, wie mit vertraglichen Regelungen über die Begrenzung der Zahl der Arbeitskräfte vor allem auf deren effektiveren Einsatz in der DDR Einfluss genommen werden könne.
Wie generell einzuschätzen sei, hätten sich die an den Einsatz polnischer Arbeitskräfte in der Volkswirtschaft der DDR geknüpften ökonomischen Erwartungen nicht erfüllt.
Für beide Seiten sei der Nutzen noch zu gering, weil die Formen des Einsatzes und der Beschäftigung polnischer Arbeitskräfte in der DDR kaum geeignet wären, die geplanten Resultate zu erzielen.
Dieser unbefriedigende Zustand sei insbesondere darauf zurückzuführen, dass einerseits polnische Arbeitskräfte zum Teil in größeren Gruppen in Betrieben mit modernster Technik und Technologie eingesetzt werden, ohne deren Qualifikation, Fähigkeiten, Fertigkeiten und die Ziele der Weiterbildung in der erforderlichen Weise zu berücksichtigen und andererseits ein Einsatz in Betrieben mit veralteter Technik und Technologie erfolgt, was eine effektivere Nutzung der Arbeitskraft sowie die Qualifizierung der Arbeitskräfte unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten der VR Polen von vornherein einschränke.
Auch der Einsatz kleinerer Gruppen polnischer Arbeitskräfte unter zum Teil komplizierten Bedingungen in Betrieben der DDR zeige insbesondere hinsichtlich der erreichten Produktivität kaum befriedigende Ergebnisse.
Letzterer Weg würde außerdem die erforderliche politisch-ideologische Erziehungsarbeit unter den polnischen Arbeitskräften erschweren.
Weiter habe eine Analyse polnischer Außenhandelsorgane ergeben, dass sich der Einsatz einiger Tausend polnischer Arbeiter in der DDR bisher nicht in der angestrebten Steigerung des Warenexports der DDR in die VR Polen niedergeschlagen habe. Bedenklich sei auch der Zustand, dass einige DDR-Betriebe, in denen polnische Arbeitskräfte tätig seien, die Exportverträge gegenüber der VR Polen nicht einhalten.
Aus polnischer Sicht würden sich in Anbetracht der geschilderten Situation für den künftigen Einsatz polnischer Arbeitskräfte in der Volkswirtschaft der DDR folgende Schlussfolgerungen anbieten:
Entsprechend der Festlegung in der Konzeption der 12. Tagung der Sektion für Zusammenarbeit der VR Polen mit der DDR sollte in der Perspektive die volle Besetzung moderner Industrieanlagen in der DDR durch polnische Arbeitskräfte (technische, ökonomische und leitende Kader) sowie durch den Einsatz polnischer Bau- und Montagearbeiter angestrebt und ermöglicht werden.1
In erster Linie seien dabei Betriebe in Erwägung zu ziehen, die für den Export in die VR Polen oder in dritte Länder produzieren, wobei sich die von den polnischen Arbeitern erzielten Zuwachsraten vorrangig im erhöhten Warenumsatz nach der VR Polen niederschlagen müssten.
Diese Form des Einsatzes polnischer Arbeitskräfte würde am besten den Gedanken der sozialistischen ökonomischen Integration entsprechen.
Die vom 7. Plenum der PVAP2 gestellten Aufgaben zur Berufsausbildung und der Qualifizierung von Facharbeitern erforderten, auch Formen des kurzfristigen Einsatzes polnischer Arbeiter zum Zwecke der Berufs- und Facharbeiterausbildung in ausgewählten Betrieben der DDR stärker zur Anwendung zu bringen. Das könne vor allem dazu beitragen, die Notwendigkeit des Einsatzes und der Ausbildung der Kader effektiver zu verbinden.
Diese beiden Grundformen des Einsatzes und der Beschäftigung polnischer Arbeitskräfte in der DDR sollten verstärkt und vorrangig in Betrieben der Elektrotechnik/Elektronik, der Chemie und im Bereich der Energie praktiziert werden. (Eine nähere Begründung dafür liegt nicht vor.)
Bezüglich der Realisierung der gegenwärtig bestehenden Abmachungen (Abkommen über den Arbeiterverkehr in den Grenzorten3 und Vertrag über die zeitweilige Beschäftigung polnischer Arbeiter in der DDR vom Mai 19714) wolle die polnische Seite besonders folgende Vorstellungen durchzusetzen versuchen:
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Einsatz größerer Gruppen von 100 bis 300 Personen in solchen Betrieben der DDR, die bei der Lösung der ökonomischen Aufgaben eine Schlüsselstellung einnehmen;
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stärkere Beachtung der Qualifikation polnischer Arbeitskräfte bei ihrem Einsatz in DDR-Betrieben;
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Einsatz, Beschäftigung und Ausbildung der Kader unter Beachtung perspektivischer Gesichtspunkte der Entwicklung der polnischen Volkswirtschaft, um weitgehend die Gewähr zu bieten, dass die Kader nach Ablauf ihrer Tätigkeit in der DDR weiterhin in ihrem Fach arbeiten können;
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verstärkter Einsatz von Kadern der unteren und mittleren Leitungsebene mit dem Ziel, die Ausbildung dieser Kader in Fragen der Leitung und Organisation ökonomischer Produktionsprozesse sowie der Anwendung und Nutzung der modernen Technik und Technologie zu forcieren;
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durch eine effektivere Arbeitsproduktivität der polnischen Arbeitskräfte müsse insbesondere beigetragen werden, eine Balance in den Außenwirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Staaten zu erreichen.
Der von den polnischen Arbeitskräften eingebrachte Teil des Nationaleinkommens der DDR sollte als Element des Exportes der VR Polen an die DDR im Rahmen der gemeinsam festgelegten Verrechnungseinheiten wirksamer zur Geltung gebracht werden.
Um diese Vorstellungen zum Tragen zu bringen, müsse nach neuen Formen der Zusammenarbeit bei der Bereitstellung von Arbeitskräften für die DDR gesucht werden. Die aus polnischer Sicht entwickelten Gedanken dazu würden nicht nur den ökonomischen Interessen beider Seiten entgegenkommen, sondern auch positiv auf das Verhältnis zwischen den polnischen Arbeitern und den Bürgern der DDR wirken.
Der Einsatz starker polnischer Gruppen unter einer selbstständigen polnischen Leitung durch polnische Baubetriebe bzw. im Gaskombinat Schwarze Pumpe bestätige, dass eine echte und dauerhafte Lösung der Gesamtproblematik nur dann herbeigeführt werden könne, wenn die polnischen Arbeitskräfte konzentriert zum Einsatz gelangten und deren Leitung in polnische Hände gelegt würde.