Hinweise über anonyme Anrufe, Bombendrohungen, Drohbriefe
30. Mai 1973
Hinweis über Vorkommnisse, Handlungen und Erscheinungen im Zusammenhang mit anonymen Anrufen, Bombendrohungen, Versenden von Drohbriefen u. a. beachtenswerten Aktivitäten [Bericht K 2/37]
Seit Anfang des Jahres 1973, besonders seit Mai 1973, ist eine steigende Tendenz der bei Dienststellen der Schutz- und Sicherheitsorgane, anderen staatlichen Dienststellen, gesellschaftlichen Organisationen und Betrieben einlaufenden anonymen Anrufe gesellschaftsgefährlichen Inhalts zu verzeichnen.
Im Zeitraum vom 1.1. bis 26.5.1973 erfolgten insgesamt 56 anonyme Anrufe gesellschaftsgefährlichen Inhalts, davon im
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Januar 2,
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Februar 8,
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März 6,
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April 8,
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Mai (bis 26.5.) 32, (davon 22 durch den Provokateur [Name 1]1).
Von diesen 56 anonymen Anrufen enthielten
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16 Ankündigungen von Bombendrohungen bzw. Sprengstoffanschlägen (eine Person durch MfS ermittelt und festgenommen in Magdeburg),
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28 staatsfeindliche Hetze in Verbindung mit Androhung terroristischer Gewaltakte gegen Angehörige der Sicherheitsorgane, anderer staatlicher Organe und gegen Grenzsicherungsanlagen (eine Person wegen Morddrohungen gegen Angehörige der ABI bzw. Lehrkräfte der TH Magdeburg durch MfS ermittelt und festgenommen),
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12 erpresserische Forderungen – Hinterlegung von bestimmten Geldsummen, verbunden mit der Ankündigung von Gewaltakten einschließlich von Sprengstoffanschlägen im Falle der Nichteinhaltung der gestellten Forderungen (zwei Jugendliche durch DVP in der Hauptstadt der DDR ermittelt und festgenommen; ein FDJ-Sekretär, Kabelwerk Oberspree, wegen Vortäuschung von Erpressung und Morddrohung),
Außerdem wurden im o. g. Zeitraum acht Drohbriefe versandt, deren Absender ebenfalls Gewaltakte gegenüber den Empfängern androhten (ein Täter aus dem Bezirk Schwerin, der sechs Drohbriefe versandte, durch MfS ermittelt und festgenommen).
Darüber hinaus gibt es eine wesentlich größere, nicht konkret erfasste Anzahl anonymer Anrufe, die allgemeine Beschimpfungen, obszöne Redensarten und Ähnliches enthalten.
Die anonymen Anrufe gesellschaftsgefährlichen Inhalts erfolgten bisherigen Feststellungen zufolge hauptsächlich aus öffentlichen Fernsprecheinrichtungen, über private Telefonanschlüsse und in Einzelfällen über die Nachrichtenverbindungen der Deutschen Reichsbahn (BASA-Leitungen).2
(Dabei ist jedoch zu beachten, dass nur bei einzelnen Vorkommnissen der Ausgangspunkt der anonymen Anrufe konkret eingegrenzt werden konnte.)
Beachtenswert ist, dass sich unter den Personen, die 1973 als anonyme Anrufer in Erscheinung getreten sind, ein DDR-Bürger befindet, der in der Untersuchung angab, seit 1964 insgesamt ca. 150 anonyme Anrufe über BASA-Leitungen sowie öffentlichen Fernsprecheinrichtungen geführt zu haben.
Außerdem erfolgten unter Ausnutzung des Telefon-Selbstwählverkehrs Westberlin – DDR3 zahlreiche, an Dienststellen der Schutz- und Sicherheitsorgane gerichtete anonyme Anrufe durch die hinlänglich als Grenzprovokateure bekannten Kriminellen [Name 1] und [Name 2]4, die in den Gesprächen in übelster Weise die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung in der DDR, besonders die Grenzsicherungsmaßnahmen, beschimpften und verleumdeten.
So erfolgten z. B. allein in der Nacht vom 10. zum 11.5.1973 22 anonyme Anrufe aus Westberlin bei der BDVP Potsdam, wo durch Vergleichsarbeit der Westberliner Provokateur [Name 1] als Täter ermittelt wurde.
Die mit der Ankündigung von Bombendrohungen, Sprengstoffanschlägen bzw. anderen terroristischen Anschlägen verbundenen anonymen Anrufe konzentrierten sich hauptsächlich auf
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Objekte der Schutz- und Sicherheitsorgane
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MfS Berlin
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VP-Präsidium Berlin
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VP-Inspektion Berlin-Friedrichshain
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BDVP Potsdam
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Einrichtungen der Deutschen Reichsbahn
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Ostbahnhof/Bahnsteig E
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Hauptbahnhof Erfurt
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Stellwerk Magdeburg/Rothensee
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Brücke an der Eisenbahnstrecke Ruhland-Arnsdorf, Kreis Senftenberg
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Einrichtungen des Ministeriums für Volksbildung
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sieben Polytechnische Oberschulen im Stadtbezirk Lichtenberg (Harnackstraße, Römerweg, Rathausstraße, Rosenfelder Ring, Schulstraße, 115 Berlin, An der Schule)
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POS Wildau, Kreis Königs Wusterhausen
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Ingenieurschule für Maschinenbau und Elektronik, Berlin-Lichtenberg
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APF Halle, Internat
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Industrieobjekte
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Heizkraftwerk Berlin-Mitte
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Kabelwerk Oberspree Berlin
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Außerdem wurden in je einem Fall Sprengstoffanschläge auf eine vom Zentralflughafen Berlin-Schönefeld bereits in Richtung Moskau gestartete Passagiermaschine vom Typ »TU 1 54« auf die jüdische Synagoge und die Komische Oper in der Hauptstadt der DDR bzw. auf das Gebäude der SED-Kreisleitung Eberswalde angedroht.
In einem Fall erhielt die Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin über Amtsanschluss aus Westberlin einen anonymen Anruf, in dem mitgeteilt wird, dass ein Anschlag auf die DDR-Vertretung in Beirut (Libanon) mit Geiselnahme vorgesehen sei, um angeblich einen in der Hauptstadt der DDR in Untersuchungshaft einsitzenden libanesischen Bürger zu befreien.5
Territoriale Schwerpunkte der anonymen Anrufe bzw. des Versendens von Drohbriefen:
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Hauptstadt Berlin, besonders die Stadtbezirke Berlin-Lichtenberg, Berlin-Mitte,
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Bezirk Potsdam,
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Bezirk Magdeburg.
Im Zusammenhang mit den erfolgten anonymen Anrufen gesellschaftsgefährlichen Inhalts wurden nach vorliegenden Hinweisen in allen Fällen umfangreiche Sicherungsmaßnahmen eingeleitet, darunter Sperrung und Räumung der betreffenden Objekte sowie deren Durchsuchung. Die eingeleiteten Suchaktionen verliefen in allen Fällen ergebnislos.
Die Art und Weise sowie der Inhalt der anonymen Anrufe und Drohbriefe lässt darauf schließen, dass sich eine große Anzahl der Täter die zunehmende Propagierung derartiger, in welchen Ländern durch kriminelle bzw. extremistische Elemente angewandter Praktiken in westlichen Massenmedien zum »Vorbild« nimmt.
Diese Feststellung wird auch dadurch bekräftigt, dass sich in einzelnen Fällen die Anrufer als »Boss der Gruppe Schwarzer September«6 oder als Mitarbeiter des amerikanischen Geheimdienstes CIA bezeichnen.
Die Vorkommnisse und die bisherigen Untersuchungen des MfS lassen erkennen, dass die Täter mit ihren Handlungen die Absicht verfolgen,
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unter Teilen der Bevölkerung Unruhe und Unsicherheit zu erzeugen. (Dafür sprechen die zahlreichen Bombendrohungen auf öffentliche Gebäude und Einrichtungen, darunter auf acht POS, sowie die in Drohbriefen an mehrere Magdeburger Bürger enthaltene Ankündigung der Vergiftung von Lebensmitteln.)
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das Verhalten und die Reaktion der Sicherheitsorgane zu testen, sie ständig zu beschäftigen und zur Verzettelung ihrer Kräfte zu veranlassen.
Von den 56 anonymen Anrufen und acht Drohbriefen gesellschaftsgefährlichen Inhalts wurden nach bisherigen Feststellungen
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acht Anrufe durch Ermittlung und Festnahme der Täter,
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zwei Anrufe durch Identifizierung der Täter (Provokateure [Name 1] und [Name 2] ) (demnach 26 bisher noch nicht aufgeklärt) und
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sechs Drohbriefe durch Ermittlung und Festnahme des Täters aufgeklärt (demnach zwei bisher noch nicht aufgeklärt).
Durch die Sicherheitsorgane (MfS – DVP) erfolgten bisher insgesamt sechs Festnahmen (vier durch das MfS) wegen in mündlicher bzw. schriftlicher Form angedrohter Gewaltakte gegen Personen und Objekte.
Ein 23-jähriger Stellwerksarbeiter vom Verschiebebahnhof Magdeburg-Rothensee zerstörte aus feindlicher Zielstellung in zahlreichen Fällen die Nachrichtenverbindungen der Dispatcher-Zentrale des Bahnhofes, um Störungen im Betriebsablauf herbeizuführen.
Weiter hat der Beschuldigte in über 150 Fällen u. a. den Präsidenten der Reichsbahndirektion Magdeburg, über Notruf die DVP bzw. wahllos andere Fernsprechteilnehmer angerufen und persönlich beschimpft. (Während des Besuches von Angela Davis7 in Magdeburg drohte er ein Attentat an.8) Bereits im März 1972 verschickte er zwei anonyme Drohbriefe an den Hauptbahnhof Magdeburg, in dem er die Übergabe von 30 000 Mark forderte. Im Fall der Nichterfüllung drohte er die Sprengung der Eisenbahnbrücken Magdeburg, Hallische Straße, an.
Mit diesen Handlungen beabsichtigte er, Unruhe unter der Bevölkerung zu stiften und die Sicherheitsorgane zu vorbeugenden Maßnahmen zu veranlassen.
Ein 20-jähriger Maurer warf Anfang 1973 mehrere Hetz- und Drohbriefe in den Briefkasten der Kadersachbearbeiterin im VEB Wohnungsbaukombinat Schwerin ein und rief diese auf anonyme Weise insgesamt dreimal an. Dabei gab er sich als Mitglied einer in Schwerin angeblich existierenden staatsfeindlichen Gruppierung aus und forderte die Kadersachbearbeiterin zur Mitarbeit in dieser staatsfeindlichen Gruppe auf. Im Weigerungsfall drohte der Täter Repressalien an. (Der Täter hatte außerdem zahlreiche Hetzlosungen in Neubauten Schwerin geschmiert.) In den bisherigen Untersuchungen gab der Täter an, mit staatsfeindlicher Zielstellung gewirkt zu haben.
Angeregt durch die Veröffentlichungen über Gewaltakte in kapitalistischen Staaten erschien ein 31-jähriger Beschäftigungsloser im März 1973 an der GÜST Oberbaumbrücke und forderte vom Diensthabenden der NVA/Grenze, ihn ungehindert nach Westberlin passieren zu lassen. Im Weigerungsfall drohte er an, dass in einem »öffentlichen Gebäude« in der Hauptstadt der DDR ein Sprengkörper mit Zeitzünder zur Explosion kommen würde.
Unter gleichen Umständen handelten unabhängig voneinander zwei Schüler in der Hauptstadt Berlin, die sich bei anonymen Anrufen als »Mitarbeiter des CIA« bzw. als »Chef des Schwarzen September« ausgaben. Beide drohten bei Nichterfüllung bestimmter Forderungen (Freilassung von drei wegen Diebstahls inhaftierten Personen) die Sprengung des Präsidiums der Volkspolizei bzw. der »Komischen Oper Berlin« an.
Am 4.4.1973 teilte der hauptamtliche FDJ-Sekretär der Drahtfabrik des Kabelwerkes Oberspree, [Name 3, Vorname], 19 Jahre, der DVP mit, dass er durch eine unbekannte männliche Person telefonisch aufgefordert worden sei, 5 000 Mark zu beschaffen und an einem bestimmten Ort zu hinterlegen. Bei Anzeige gegenüber der DVP solle er ermordet werden.
Untersuchungen durch das MfS und der DVP ergaben, dass [Name 3] diese Straftaten vortäuschte. Es wurde ein Ermittlungsverfahren ohne Haft durch die DVP eingeleitet.
Weitere beachtenswerte Vorkommnisse (ohne das diesbezügliche Androhungen erfolgten):
Jugendliche aus Rangsdorf, Bezirk Potsdam, beabsichtigten eine Geiselnahme (Entführung des Chefkommentators des Fernsehens der DDR)9, um ein ungehindertes Überschreiten der Staatsgrenze der DDR zu erzwingen.
Durch die Beschuldigten waren als weitere Varianten für ein gewaltsames Durchbrechen der Staatsgrenze die Entführung eines Flugzeuges der Interflug bzw. die gewaltsame Überwindung der Grenzsicherungsanlagen an der GÜST Friedrichstraße unter Benutzung sowjetischer Uniformen geplant.
Bei der Untersuchung vorsätzlicher Brandstiftungen im Zeitraum 1.1. bis 20.5.1973 (insgesamt wurden 84 Personen inhaftiert, seitens des MfS werden fünf Ermittlungsverfahren, in denen fünf Personen bearbeitet werden, geführt) gibt es keinerlei Hinweise, die einen Zusammenhang mit anonymen Anrufen, Drohungen usw. erkennen lassen.
Hinsichtlich der Beschädigung und Vernichtung von Sichtagitation, einschließlich Fahnenabrissen, zeichnet sich seit Jahren die Tendenz einer Verringerung derartiger Vorkommnisse ab. Insgesamt stellen diese Delikte keinen Schwerpunkt mehr dar.
Territoriale Konzentrationen in diesen Deliktgruppen sind nicht vorhanden.
Unter den insgesamt festgestellten Fällen des Beschädigens von Sichtagitation und der Fahnenabrisse stellen bewusste vorsätzliche Handlungen nur Einzelfälle dar.
Von den bekannt gewordenen Vorkommnissen im Zusammenhang mit dem 1. und 8. Mai 1973 (Zeitpunkte im Jahre 1973, zu denen insbesondere Möglichkeiten des Abreißens von Fahnen und Sichtagitation bestanden) sind lediglich drei Fälle als bewusste bzw. vorsätzliche Handlungen einzugliedern. An diesen drei Fällen waren vier Täter beteiligt.
Die Aufklärung der insgesamt bekannt gewordenen Fälle ergab, dass als Täter insbesondere Jugendliche und Kinder infrage kommen.
Als Motive der Tat treten dabei Angeberei und Hervorhebung des persönlichen Mutes sowie bei Jugendlichen Rowdytum und Übermut – besonders nach Alkoholgenuss – auf.
Bei den erwähnten drei Vorkommnissen durch bewusste vorsätzliche Handlungen wurden vier Jugendliche ermittelt, die aus einer feindlichen Einstellung gegenüber der DDR heraus handelten.
Im Einzelnen handelt es sich dabei:
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um den Abriss und das Verbrennen (ohne weitere Augenzeugen) von vier Fahnen am 1.5.1973 und weiteren Fahnen zu früheren Zeitpunkten in Greifswald.
Täter ist ein 23-jähriger Arbeiter, Übersiedler aus der BRD, der – wie er angab – starke »Hassgefühle« gegenüber der DDR hegen würde.
(Inhaftierung durch VPKA Greifswald)
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um den Abriss einer Fahne in Berlin am 13.5.1973 durch einen 18-jährigen Schlosser, der auch den ABV10 mit dem Messer bedrohte, als er von ihm gestellt wurde.
(Inhaftierung durch DVP)
- 3.
um den Abriss und das Zerreißen einer Fahne durch zwei 21-jährige Arbeiter am 9.5.1973 in Stavenhagen (Neubrandenburg).
Beide Täter gaben als Motiv ihrer Handlung eine negative Einstellung zur DDR an.
(Inhaftierung durch DVP)