Meinungen aus dem medizinischen Bereich
28. August 1973
Thesenhafte Darstellung von Meinungen aus dem medizinischen Bereich, welche Faktoren und Erscheinungen bei der Entschlussfassung zum ungesetzlichen Verlassen der DDR durch Ärzte als subjektive Ursachen, Motive und Anlässe dargestellt werden bzw. eine begünstigende Rolle spielen [Bericht K 1/41b]
Aus den vom MfS eingeleiteten Ermittlungsverfahren gegen Ärzte und medizinisches Personal sowie aus inoffiziell ermittelten Stimmungen und Meinungen ergibt sich folgendes, thesenartig zusammengefasstes Stimmungs- und Meinungsbild unter Ärzten und medizinischem Personal in der DDR.
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Nichteinverständnis mit der angeblichen Beurteilung der Person des Arztes nach seinem gesellschaftlichen und politischen Engagement und nicht in erster Linie nach dem fachlichen und wissenschaftlichen Profil.
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Ablehnung, sich politisch zu engagieren (Aufforderung zum Besuch von Versammlungen, zum Diskussionsbeitrag, zum Gestalten von Wandzeitungen,1 zur Übernahme von Funktionen).
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Eingeschränkte Reisemöglichkeiten in das kapitalistische Ausland anlässlich gewünschter Besuche fachlicher Kongresse und zu Privatbesuchen.
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Ungenügende Möglichkeiten zur Führung eines luxuriösen Lebensstils infolge eingeschränkter Verdienstmöglichkeiten und des Mangels entsprechender Konsumgüter.
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Kritik am ungesicherten Studienplatz für Ärztekinder.
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Unzureichende Möglichkeiten zur Hospitation an Instituten anderer sozialistischer Staaten trotz bestehender Freundschaftsverträge; fehlende Kontaktmöglichkeiten zu anerkannten sowjetischen Kliniken und Lehranstalten.
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Ungenügende »Freiheit« hinsichtlich der Wahl des Arbeitsplatzes.
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Ungenügende Möglichkeiten und »Freiheiten« zur Eröffnung einer Privatpraxis.
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Die staatliche Vermittlung der Ärzte nach Abschluss ihres Studiums an Krankenhäuser, Ambulatorien bzw. Arztpraxen in ländlichen Gebieten wird als »Zwangsverpflichtung« angesehen, die zu verbreiteter Unlust führe.
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Die Orientierung der Stationskollektive der Krankenhäuser im sozialistischen Wettbewerb auf wirtschaftlich-rationelles Handeln in der Patientenversorgung sowie auf gesellschaftlich nützliche Arbeiten in den Stationen stehe im Widerspruch zur Entscheidung des Arztes über die individuelle Patientenbehandlung und bedinge, dass die Versorgung der Patienten zu kurz komme und zu Klagen führe.
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Die zunehmende Verwaltungsarbeit und die Forderungen, gesellschaftspolitische Arbeit zu leisten, werden als Belastungen empfunden, die die Ärzte davon abhielten, ihre eigentlichen Aufgaben wahrzunehmen.
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Schwierigkeiten bei der Zuteilung von Antibiotika, Mängel in der Medikamentenversorgung, bei der Ausrüstung mit medizinischen Geräten, durch geringe Krankenhausneubauten sowie durch fehlendes Pflege-, Reinigungs- und Hilfspersonal.
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Angebliche Vorgabe von »Normen« für die Arbeitsintensität durch das Ministerium für Gesundheitswesen.
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Kritiken an Leitungstätigkeit würden von keiner Stelle beachtet.
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Mangelhaftes Arbeitsklima durch Spannungen zwischen Ärzten und Schwestern (Überlastung durch berufsfremde Arbeiten); Vorschläge von Schwestern und Ärzten fänden bei Leitern wenig oder keine Beachtung.
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Angebliche Widersprüche zwischen in Reden und Beschlüssen von Partei und Regierung erklärten Zielen und ihrer praktischen Verwirklichung im Gesundheitswesen der DDR.
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Enttäuschung und Resignation hinsichtlich des angeblich ausbleibenden Fortschritts beim Neubau und bei der vollständigen Rekonstruktion von Krankenhäusern.
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Aufgrund des Alters von Gebäuden (Krankenhäuser und medizinische Institute) sind häufig handwerkliche Instandsetzungsarbeiten erforderlich, die große Einschränkungen des medizinischen Personals (besonders räumlich gesehen) über lange Zeiträume erforderlich machen; zum anderen wird durch veraltete Installationen die Inbetriebnahme bzw. der Anschluss moderner Geräte erschwert oder unmöglich gemacht.
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Infolge Fehlens geeigneter Gebäude (z. B. zum Einrichten von Unfall-Stationen) und Nutzung von Räumlichkeiten, die ursprünglich für andere Zwecke gedacht waren, ergeben sich Unzulänglichkeiten und nichterfüllbare Forderungen (z. B. nach Erweiterung sanitärer Anlagen, nach Anschluss moderner Medizintechnik).
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Zum Teil sind leitende medizinische Personale vordergründig oder während eines großen Teils ihrer Arbeitszeit mit der Beschaffung von Handwerkern und Baumaterialien beschäftigt. Zu viel Zeitaufwand sei für Organisationsfragen im Zusammenhang mit der Instandhaltung notwendig.
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Ärger über nicht vorhandene oder nicht geplante finanzielle Mittel und Unbeweglichkeit der Pläne im Zusammenhang mit kurzfristig notwendigen Neuanschaffungen und Reparaturen medizinischer Geräte.
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Kritik an der ungenügenden Höhe der Gehälter.
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Häufige Vergleiche zwischen dem Einkommensdurchschnitt der Ärzte in der DDR und der BRD. Hervorhebung der höheren Einkommen von Ärzten in der BRD. Kritik an der geringen Vergütung von Bereitschafts- und Nachtdiensten im Verhältnis zur BRD.
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Vergleiche des Verdienstes zwischen Ärzten und Angehörigen von Dienstleistungskombinaten (z. B. der Glasreiniger) bei deren Einsatz auf Krankenstationen führten oft zu gleichhohem Einkommen.
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Keine Neuzulassung für Behandlung von Privatpatienten (sei nur wenigen Medizinern vorbehalten) und damit Entfall erheblicher Verdienstmöglichkeiten.
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Unzureichende Möglichkeiten zur weiteren Qualifizierung auf dem jeweiligen spezifischen Arbeitsgebiet, zur weiteren Anerkennung als Spezialist und zur Erreichung bestimmter akademischer Titel und Auszeichnungen.
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Entwicklung wissenschaftlicher Kader werde nicht gesteuert (Selbstlauf).
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An vielen Kliniken und medizinischen Einrichtungen bestehe keine einheitliche Forschungskonzeption.
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Hochspezielle medizinische Betreuung durch Hochschul-Einrichtungen (z. B. Charité) sinke immer mehr auf das Niveau der einer Poliklinik des territorialen Gesundheitswesens.
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Wichtige materielle Voraussetzungen, wie hochspezielle Werkstoffe und Materialien, fehlten für wissenschaftliche Arbeiten.
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Nachwuchs hochqualifizierter Zahntechniker sei nicht gesichert.
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Häufiges Nichteinhalten von Versprechen Vorgesetzter bzw. staatlicher Leiter hinsichtlich Beseitigung vorgetragener Unzulänglichkeiten.
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Anleitung junger wissenschaftlicher Mitarbeiter durch qualifizierte Fachärzte reiche nicht aus.
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Ungenügende fachliche Entwicklungsmöglichkeiten durch Vorhandensein relativ junger Vorgesetzter; demgegenüber Kenntnis über akuten Ärztemangel in der BRD.
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Infolge räumlicher Einschränkungen in den Einrichtungen des Gesundheitswesens seien echte wissenschaftliche Arbeiten nicht möglich (Assistenzärzte würden zum Teil in Räumen arbeiten, die von vielen – bis zu 20 – Personen als Arbeitsraum genutzt werden müssen).
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Völlige Überlastung der Bereiche Gynäkologie, besonders seit der Gesetzesordnung zum § 153 des StGB.2 Die Schwangerschaftsunterbrechungen würden von Ärzten und medizinischem Personal mit Widerwillen durchgeführt. Sie fühlten sich als »Schlächter«, obwohl sie doch berufen seien, Leben zu erhalten.3
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Unverständnis für das angeblich seit Jahren deutlicher werdende Zurückbleiben der Medizintechnik gegenüber den kapitalistischen Ländern (Geräte aus der DDR seien teurer, störanfälliger).
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Weiterhin Einsatz veralteter medizinischer Technik ohne Ausblick auf Veränderung; demgegenüber Kenntnis über angeblich bessere Verhältnisse im medizinischen Bereich der BRD.
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Mangelhafte Qualität vieler medizinischer Instrumente; bei Ausfall stünden Ersatzgeräte nicht zur Verfügung.
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Einengung der Anwendung medizinischer Kenntnisse durch fehlende moderne medizinische Geräte.
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Zunehmender Bürokratismus; Belastung mit Verwaltungsarbeiten; großer Zeitaufwand für geforderte Teilnahme an Sitzungen; zunehmendes Berichterstattungswesen (zum Teil doppelte Berichterstattung an MfG und MHF).
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Aufwenden von Arbeitszeit der Ärzte infolge berufsfremder Arbeit, wie z. B. Sauberhaltung von Aufenthaltsräumen. (Zu einigen Fällen Forderung nach Ablegen der Fahrstuhlprüfung durch Ärzte infolge Fehlens von Krankenpflegern.)
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Zusätzliche Belastung durch Erfüllung von Wettbewerbs- und Kollektivverpflichtungen (Wandzeitung, Subbotniks)4. Es gäbe Beispiele, dass Ärzte als Brandschutzverantwortliche eingesetzt werden und dazu Schulungen besuchen müssen.
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Kritik am Informationsfluss auf fachlichem Gebiet.
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Kritik an Literaturversorgung (Fachliteratur) aus dem NSW.
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Kritik an Fernsehsendungen der DDR. Im Fernsehen der DDR würde – im Gegensatz zum Fernsehen der BRD – ungenügend über medizinische und andere wissenschaftliche Probleme berichtet.
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Kritik am Informationsaustausch mit sozialistischen Ländern auf medizinischem Gebiet.
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Ungenügende Nutzung zum Informationsaustausch der bestehenden Verbindungen zu medizinischen Einrichtungen des sozialistischen Auslandes.
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Fehlende Informierung durch Nichtdurchführung medizinischer Kongresse innerhalb der sozialistischen Länder.
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Ernste ungelöste Wohnungsprobleme seit Jahren.
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Unzulänglichkeiten bei der Zurverfügungstellung von Urlaubsplätzen.
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Fehlen von leistungsstarken Betriebsverkaufsstellen für Ärztinnen und Schwestern.
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Mängelerscheinungen in den Betriebsküchen (durch Personalmangel kein Wahlessen; Mahlzeiten werden bereits erkaltet ausgeliefert).
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Ungenügende Aufenthalts- und Essenräume für Ärztepersonal; zum Teil Anstellzeiten für eine warme Mahlzeit bis 30 Minuten; mangelhafte Sitzgelegenheiten in Essenräumen.
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Ungenügende hygienische Bedingungen in Räumen des Ärztepersonals infolge akuten Mangels an Reinigungs- und Bedienungskräften.
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Kritische Gesamtsituation im Schwesternbereich. Durch ungenügende Besetzung mit Schwestern werden Pflegearbeiten an Ärzte delegiert.
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Starke Fluktuation der Schwestern und des Hilfspersonals.
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Gehaltsprobleme bei Schwestern nicht geklärt. Nachtzuschläge, Zuschläge für Dienstjahre und Leistungszulagen seien zu gering.
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Völlig ungenügende Zahl der Reinigungskräfte; Delegierung der Arbeit des Geschirrspülens an das Schwesternpersonal; dadurch Übernahme der anfallenden Pflegearbeiten durch Ärzte.
Die Tatsache, dass viele Ärzte und medizinisches Personal in der DDR derartige Auffassungen vertreten und sich über solche, zum Teil tatsächlich vorhandene, in einer Reihe von Fällen aber auch nur konstruierte Missstände, Mängel, Unzulänglichkeiten usw. untereinander in breitem Maße austauschen, ist dem Gegner durch seine Spionage- und Abschöpftätigkeit bekannt.
Er nutzt diese Kenntnis in letzter Zeit verstärkt zu einer breit angelegten, zentral gelenkten politisch-ideologischen Diversion und Abwerbungskampagne gegen das Gesundheitswesen der DDR.
Nach vorliegenden internen und vom MfS in Ermittlungs- und Untersuchungsverfahren erarbeiteten Hinweisen findet diese breit angelegte und zentral gelenkte Kampagne des Gegners in folgendem, thesenhaft dargestellten Vorgehen ihren Ausdruck:
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Alle republikflüchtigen Bürger der DDR müssen, um in den Besitz von Personaldokumenten der BRD zu kommen, das staatlich sanktionierte sogenannte Notaufnahmeverfahren durchlaufen.5 Im Rahmen dieses Verfahrens, in das erwiesenermaßen westliche Geheimdienste eingeschaltet sind, erfolgt ihre eingehende Befragung z. B. über:
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ihre Fluchtgründe und -wege,
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die Situation auf ihrer Arbeitsstelle in der DDR, die Meinung und Ansichten von Mitarbeitern ihrer Arbeitsstelle in der DDR bis hin zur ausführlichen Charakterisierung dieser Personen,
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die Stimmung im Verwandten- und Bekanntenkreis u. a.m.
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Ähnliche Befragungen erfolgen durch staatliche Organe und Berufsorganisationen der BRD im Rahmen des Approbationsverfahrens, das Ärzte aus der DDR durchlaufen müssen.
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Die Ergebnisse dieser Befragung dienen den Geheimdiensten, staatlichen Organen und Berufsorganisationen zur Überprüfung und Vervollständigung gesammelter Spionageinformationen, der Erarbeitung von Einschätzungen über die Situation in der DDR (u. a. auch zur Verwendung für die gegen die DDR und ihr Gesundheitswesen geführte politisch-ideologische Diversion und Abwerbungskampagne).
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Besonders aussagewillige und käufliche Elemente unter den Republikflüchtigen werden direkt den Massenmedien der BRD (Rundfunk, Fernsehen, Presse) zugeführt bzw. wird durch entsprechende Hinweise auf sie aufmerksam gemacht, um sie in Interviews durch zielgerichtete Fragen als »Beweise« für die Richtigkeit gegnerischer Parolen und Verleumdungen über die Situation im Gesundheitswesen und in der DDR allgemein auszunutzen (Ziel: unter Mitarbeitern und Bürgern ihres früheren Wirkungskreises durch ihr öffentliches Auftreten »beispielgebend zu wirken« und Fluchtgedanken und Fluchtbereitschaft hervorzurufen).
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Außerdem werden Republikflüchtige angehalten und ausgenutzt durch briefliche Rückverbindungen an Mitarbeiter ihrer Arbeitsstellen direkt (zielgerichtet) oder indirekt die Abwerbungskampagne zu unterstützen. Zum Beispiel werden solche Briefe, in denen Republikflüchtige über ihre Anstellung, Bezahlung, Aufnahme u. a. in der BRD berichten, in Krankenhäusern und Kliniken herumgereicht und [es] soll dadurch Fluchtbereitschaft geweckt werden.
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Über Verbindungen zu Mitarbeitern der im »Notaufnahmeverfahren« tätigen westlichen Geheimdienste (z. B. des »Bundesamtes für Verfassungsschutz«) sowie durch Hinweise von besonders aussagewilligen und käuflichen Elementen unter Republikflüchtigen erhalten Menschenhändlerorganisationen6 Tipps auf weitere »fluchtwillige« Ärzte und Angehörige des medizinischen Personals in der DDR, die sie durch Mittelsmänner aufsuchen und wenn keine Fluchtwilligkeit vorliegt, durch anonyme Drohungen erpressen lassen (z. B. anonyme Anrufe, dass sie vom MfS überwacht würden).
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Ärztevereinigungen, medizinische Gesellschaften und Pharmaziekonzerne betreiben die Abwerbung durch eine Vielzahl lukrativer Stellenangebote in den medizinischen Fachzeitschriften der BRD sowie durch persönliche Einwirkung in Gesprächen, Zusammenkünften usw. anlässlich von Tagungen, Kolloquien und anderen internationalen wissenschaftlichen Veranstaltungen sowie ebenfalls in Zusammenarbeit mit den Menschenhändlerorganisationen unter Ausnutzung entsprechender, im Rahmen des Approbationsverfahrens gewonnener Hinweise sowie bestehender Rückverbindungen geflüchteter Ärzte.