Qualitätsmängel von Rohren für Erdgasleitung UdSSR– ČSSR– DDR
23. Januar 1973
Information Nr. 31/73 über die Ursachen der qualitätsgeminderten Herstellung von Rohren für die Erdgasleitung Sowjetunion – ČSSR – DDR »Nordlicht« im VEB Rohrwerke Bitterfeld
Im Juni 1971 informierte das MfS über einige Probleme der Gewährleistung einer qualitätsgerechten Produktion von Röhren für Gasleitungen im VEB Rohrwerke Bitterfeld.1
Der Einsatz qualitätsgeminderter Rohre führte an Teilabschnitten der neu errichteten Ferngasverbundleitung der DDR zu Störungen, Gasaustritt und Brandfolge, wobei auch Personen gefährdet wurden.
Es liegen erneut Hinweise darüber vor, dass der Einsatz längsnahtgeschweißter Rohre aus dem VEB Rohrwerke Bitterfeld auf der Transitleitung Sowjetunion – ČSSR – DDR2 auf dem Territorium der ČSSR und in den Abschnitten Rochlitz – Riesa bzw. Piesteritz – Brandenburg zu Beanstandungen und Reklamationen geführt hat. So reklamierte u. a. die Prüfdienststelle Bratislava/ČSSR einige Male Sendungen spiralgeschweißter Rohre aus dem VEB Rohrwerke Bitterfeld.
Die im Zusammenhang mit diesen Vorkommnissen eingeleiteten Überprüfungen durch Experten in Zusammenarbeit mit dem MfS ergaben:
Monteure des ČSSR-Betriebes Potrubi Prag3 hatten, nachdem bereits zwölf km Rohre der insgesamt 40 km langen Trasse Rochlitz – Riesa verlegt worden waren, bei Röntgenuntersuchungen4 auf der Baustelle Fehler in den Endbereichen der Längsnähte mehrerer Rohre festgestellt (Schweißfehler und sogenannte Endkraterrisse).
Obwohl dem VEB Rohrwerke Bitterfeld diese Mängel seit dem 6.10.1972 bekannt waren, wurde erst am 10.11.1972 aufgrund einer Weisung des DAMW5 die Produktion längsnahtgeschweißter Rohre gestoppt.
Die Fertigung konnte erst am 29.11.1972 wieder freigegeben werden, nachdem eine Reihe von Auflagen des DAMW erfüllt worden waren.
Die Auslieferung nicht qualitätsgerechter Rohre durch den VEB Rohrwerke Bitterfeld hat beträchtliche Auswirkungen, da alle Rohre der Trasse Rochlitz – Riesa einschließlich der bereits verlegten nochmals geprüft, zum Teil verworfen, nachgebessert bzw. ausgebaut und durch neue ersetzt werden müssen.
Es wird eingeschätzt, dass dadurch für das Kombinat Rohrleitungen und Isolierungen zusätzliche Kosten in Höhe von mindestens fünf Mio. Mark entstehen.
Die Experten stellten im Verlauf ihrer Untersuchungen eindeutig fest, dass die leitenden Mitarbeiter einschließlich der Direktoren in der Leitungstätigkeit den Voraussetzungen zur Qualitätssicherung in der Vergangenheit wenig Beachtung geschenkt hatten.
Bereits im Januar 1972 stellte das DAMW bei der Untersuchung der Ursachen für grobe Qualitätsverstöße bei der Herstellung spiralgeschweißter Rohre für die Erdgasleitung Mängel in der Leitungstätigkeit fest.
Hinsichtlich der Produktion längsnahtgeschweißter Rohre kamen die Experten zu der Auffassung, dass
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die seit 1961 in Betrieb befindliche Rohrstraße 1 zwar nicht mehr dem neuesten Stand der Technik entspricht, jedoch für die Produktion qualitätsgerechter Rohre durchaus noch geeignet ist,6
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die Technologien keine Gewähr für eine qualitätsgerechte Produktion längsnahtgeschweißter Rohre boten und
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im gesamten Fertigungsablauf die technologische Disziplin und die Kontrollpflicht verletzt wurden.
Trotz der bekannten Mängel hat auch die Abteilung Endkontrolle im VEB Rohrwerke Bitterfeld die Rohre zur Auslieferung freigegeben. Der Abteilung Endkontrolle steht ein modernes Prüfgerät (Krautkrämer-Ultraschall-Prüfgerät7) zur Verfügung, mit dessen Messergebnissen jeder Fehler erkennbar wird.
Die Prüfungen wurden jedoch nicht mit der erforderlichen Zuverlässigkeit durchgeführt. Es fehlen gegenwärtig teilweise die technischen und personellen Voraussetzungen, sodass die an den Rohrenden auftretenden Fehler zum Teil nicht erkannt worden sind. Experten stellten dazu fest, dass
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am Ultraschall-Prüfgerät nur zwei von vier Prüfknöpfen allgemein funktionsfähig sind. (Durch ungenügende Führung wird die volle Funktionstüchtigkeit beeinträchtigt.)8
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die optische und akustische Fehleranzeige sowie der Bandschreiber und die automatische Farbspritzanlage zur Fehlermarkierung am Prüfgerät nicht mehr vorhanden sind, wodurch die Fehleranzeige lediglich für kurze Zeit auf dem Bildschirm erscheint und leicht übersehen werden kann.
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die täglich erforderliche Wartung und Pflege des empfindlichen Prüfgerätes nicht gewährleistet wird, weil versäumt wurde, Spezialisten für diesen Zweck auszubilden.
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die eingesetzten Prüfer ungenügend ausgebildet sind, sodass sie auf dem Bildschirm angezeigte Fehler leicht übersehen können. Sie besitzen auch nicht die Fähigkeit, das kritische Rohrende durch manuelle Führung des Schlittens der Prüfköpfe, mit dem speziell dafür installierten Handgerät, zu prüfen.
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die Prüfergebnisse nicht fixiert und demzufolge auch nicht statistisch ausgewertet werden.
Alle diese Probleme sind der Werkleitung seit Jahren bekannt, ohne dass eine grundsätzliche Veränderung erfolgte. Aus den seit 1967 vorliegenden DAMW-Beauflagungen sind ungenügend bzw. noch keine Schlussfolgerungen gezogen worden. Auch die Auflagen des DAMW von Januar 1972 wurden trotz Parteikontrolle nicht realisiert.
In der Wettbewerbsführung9 wurde die Qualitätssicherung nur ungenügend berücksichtigt.
Bei den Untersuchungen wurde auch geprüft, inwieweit der VEB Rohrwerke Bitterfeld von der Zulassung der Technischen Überwachung der DDR Gebrauch macht, Rohre der Klasse A herzustellen (setzt die Güteklasse – Schweißfaktor 0,9 – voraus).10
Die Prüfung verlief negativ, da im Werk nicht auf die Erreichung einer solchen hohen Schweißqualität orientiert wird. Interessenten für Rohre der Klasse A werden abschlägig beschieden, sodass diese oft auf die verfügbaren Rohre der Klasse B zurückgreifen müssen, und sich für die Verarbeitung (z. B. für Druckgefäße) eine Ausnahmegenehmigung von der Technischen Überwachung der DDR beschaffen, weil in der DDR keine Rohre der Klasse A hergestellt werden bzw. zur Verfügung stehen.
Aufgrund der genannten Bedingungen ist nach den erfolgten Überprüfungen zu schlussfolgern, dass gegenwärtig noch keine Gewähr für eine dauerhafte Sicherung der Qualität der Produktion im VEB Rohrwerke Bitterfeld besteht und weitere »Qualitätseinbrüche« möglich sind.
Zur Überwindung der Situation im VEB Rohrwerke Bitterfeld wäre unseres Erachtens erforderlich, auf den Generaldirektor der VVB Kraftwerksanlagenbau einzuwirken, sich persönlich für den Einsatz einiger qualifizierter Leitungskader im VEB Rohrwerke Bitterfeld einzusetzen. Diese Maßnahme erscheint im Interesse der Qualitätssicherung in der Rohrfertigung und der Sicherung des Endtermines der Fertigstellung der Erdgasleitung Sowjetunion – ČSSR – DDR erforderlich.
Gleichzeitig sollte geprüft werden, welche Möglichkeiten zur Rekonstruktion der Rohrstraße 1 bzw. zur Instandsetzung und Komplettierung des Ultraschall-Prüfgerätes bestehen.