Direkt zum Seiteninhalt springen

Reaktion auf Neuregelung des Mindestumtauschs

16. November 1973
Information Nr. 1173/73 über die Reaktion auf die Neuregelung des verbindlichen Mindestumtausches für Besucher aus nichtsozialistischen Staaten und Westberlin

Zur Reaktion der Bevölkerung der DDR:

Übereinstimmend wird aus den Bezirken berichtet, dass die Anordnung des Ministers der Finanzen der DDR vom 5.11.1973 über die »Neuregelung des verbindlichen Mindestumtausches für Besucher aus nichtsozialistischen Staaten und Westberlin«1 gegenwärtig in den Diskussionen der Bevölkerung der DDR einen großen Umfang einnimmt, wobei eingeschätzt wurde, dass die Mehrheit der Diskussionen besonders von den Personenkreisen geführt werden, die aktive Verbindungen in das nichtsozialistische Ausland, hauptsächlich auch in die BRD und nach Westberlin, unterhalten.

Personen, die keine Kontakte in nichtsozialistische Staaten unterhalten, äußern sich vielfach zustimmend zu den getroffenen Maßnahmen und akzeptieren die hierfür gegebenen Begründungen.

Ihre Reaktionen werden von folgenden Überlegungen bestimmt:

  • Spekulationen mit DDR-Währung müssten unbedingt unterbunden werden.

    Durch Finanzmanipulationen werde unsere ökonomische Basis geschwächt; das könnten wir uns nicht bieten lassen.

  • BRD-Bürger und Bürger Westberlins hätten bisher bei Einkäufen in der DDR Vorteile erzielt, die der DDR ökonomisch Schaden zufügten. Es sei zu begrüßen, wenn diese Bestrebungen vereitelt werden.

  • In mehreren Fällen wurde aus eigenem Erleben geschildert, wie BRD-Bürger unmittelbar vor ihrer Abreise aus der DDR umfangreiche Abkäufe in Lebensmittel- und Fleischgeschäften tätigten.

Von einem großen Personenkreis aus allen Schichten der Bevölkerung werden Zweifel an der Richtigkeit der Maßnahmen geäußert.

Dabei werden in diesen Meinungsäußerungen die staatlichen Finanzinteressen akzeptiert und Auffassungen vertreten, wonach die Erhöhung der Mindestumtauschsätze z. T. auch berechtigt sei.

Gleichzeitig werden jedoch Bedenken in der Hinsicht geäußert, wonach diese Erhöhung nicht zulasten der unteren Einkommensgruppen, vor allem der Rentner, erfolgen dürfe, da der humanistische Charakter der sozialistischen DDR sonst unglaubwürdig erscheinen würde.

In diesem Zusammenhang wird im größeren Umfang in allen Bevölkerungsgruppen argumentiert, es wäre besser und gerechter gewesen, Touristen- und Privatreisen differenziert einzustufen, da bei Privatreisen Aufenthalt und Verpflegung durch den Gastgeber bestritten werden und die in der Presse angegebenen Kosten mehr auf Touristeneinreisen zutreffend seien.2

Wiederholt treten Fragen auf, inwieweit die Neuregelung auf der Basis der mit der BRD und dem Senat von Westberlin abgeschlossenen Verträge erfolgt sei3 oder ob nicht eine »Unterlaufung« oder »Überziehung« der Vereinbarungen erfolgt sei.

Außerordentlich umfangreich werden die Maßnahmen von Bürgern der DDR mit aktiven Verbindungen insbesondere zur BRD und Westberlin sowie von politisch schwankenden Personenkreisen diskutiert. Aus den Bezirken der DDR wird übereinstimmend bekannt, dass diese Kreise in den meisten Fällen die Anordnung pauschal ablehnen und in Gesprächen ihre »Argumente« über ihre Ablehnungsgründe z. T. lebhaft und nachhaltig zum Ausdruck bringen.

Die Skala dieser »Argumente« reicht von spekulativen Erwägungen bis zu negativen Äußerungen.

Die spekulativen Ansichten über Ursachen der Maßnahmen beinhalten vorwiegend:

  • Die Besucherströme sollen aufgrund von Versorgungslücken in der DDR gestoppt werden.

  • Die Einflussnahme der Bürger aus nichtsozialistischen Staaten auf DDR-Bürger könne die DDR nicht mehr verkraften. Nun müsse auch »mit unlauteren Mitteln« versucht werden, Kontakte wieder abzubauen.

  • Die DDR-Regierung schaffe Anlässe zu Reibereien mit der BRD, um anschließend wieder einen »härteren Kurs« einschlagen zu können.

Die Maßnahmen in bestimmtem Umfang bzw. grundsätzlich ablehnende Diskussionen beinhalten im Wesentlichen folgende Tendenzen:

  • Es sei unverständlich, warum diese Neuregelung nicht differenziert worden sei.

    Die einheitlichen Mindestumtauschsätze gingen zulasten von Rentnern, kinderreichen Familien und Bürgern mit niedrigem Einkommen. Die Neuregelung in der jetzigen Form widerspräche der bisherigen Politik der DDR.

  • Die Maßnahmen würden zwangsläufig zu einem spürbaren Rückgang der Einreisen in die DDR führen. Damit würden humanitäre Schritte der DDR wieder abgebaut. Eine solche Politik könne nicht die Zustimmung der betroffenen Familien finden.

  • Während eine Neuregelung, die nur Touristeneinreisen beträfe, Verständnis finden könnte, sei die jetzige Regelung vor allem von Bürgern, die Verwandtenbesuche erhalten, abzulehnen, da die Möglichkeiten zu Treffen mit Verwandten wiederum eingeschränkt würden.

In wiederholten Fällen steigerten sich diese Diskussionen bis zu negativen Aussagen, die nicht ausschließlich aufgrund einer feindlichen oder negativen Grundeinstellung zur DDR, sondern offensichtlich durch eine starke persönliche Verärgerung über die Neuregelung entstanden sind.

Dabei stehen folgende Aussagen im Vordergrund:

  • Die DDR würde mit dieser Festlegung beweisen, dass tatsächlich keine Arbeiterpolitik betrieben würde. Ausschlaggebend sei die Praxis, und diese widerspräche Versprechungen und Reden der letzten Jahre.

  • Es sei abzuwarten, welche Gegenmaßnahmen insbesondere von der BRD eingeleitet werden würden. Mehrfach werden dabei Hoffnungen auf die »arbeiterfreundliche Politik« Brandts4 ausgesprochen,5 wobei angenommen wird, dass durch Proteste der BRD-Seite »das letzte Wort zu der Neuregelung noch nicht gesprochen« worden sei.

  • Der DDR sei jedes Mittel recht, um in den Besitz von Devisen zu gelangen.

  • Die Erhöhung des Mindestumtausches sei Ausdruck für schleichende Preiserhöhungen in der DDR.

Im stärkeren Umfang wird in allen Bezirken über die veröffentlichten Preisvergleiche diskutiert.6

Dabei wird mehrfach betont, die Preisvergleiche seien einseitig und entsprächen nur z. T. der Wahrheit. Bürger der DDR nehmen dabei Bezug auf persönliche Gespräche mit Verwandten/Bekannten aus der BRD, von denen sie besucht wurden, und bringen zum Ausdruck, sie seien über Preisgefüge in der DDR und der BRD bestens informiert. In den Vergleichstafeln seien viele Artikel nicht angeführt, da sonst der Vergleich zu unserem Nachteil ausfallen könnte (Kaffee, Strumpfhosen u. a.).

Von anderen Personen wird z. T. mit Nachdruck die Auffassung vertreten, im Ergebnis der Preisvergleiche wäre eine erhöhte Rentenberechnung sowie eine Überarbeitung der Reisekostenordnung der DDR7 erforderlich, da offiziell bestätigt worden sei, welcher Tagessatz für die DDR notwendig sei.

Zur Reaktion von Bürgern nichtsozialistischer Staaten und Einwohnern von Berlin (West), die in den letzten Tagen über die Grenzübergangsstellen der DDR reisten

An allen Grenzübergangsstellen der DDR gibt es seit der Veröffentlichung der Neuregelung umfangreiche Diskussionen zu diesem Problem.

Neben einer Reihe positiver, die Neuregelungen unterstützenden Äußerungen, überwiegen negative Äußerungen, insbesondere von Bürgern der BRD und Einwohnern von Berlin (West), wobei folgende »Argumente« im Mittelpunkt stehen:

  • Durch die neuen Umtauschsätze wird die Möglichkeit des mehrmaligen Besuches von Verwandten eingeschränkt. (Dies könne aber nicht die von der DDR versprochene Erleichterung im Reiseverkehr sein.)

  • Die Regierung der DDR versuche damit nur zu verhindern, dass der Besucherstrom aus der BRD/Westberlin weiter anwächst.

  • Der Mindestumtausch sei eine Schikane gegenüber den Arbeitern und Rentnern, da diese den Betrag nicht mehr aufbringen könnten.

  • Die Begründungen der DDR seien aus der Luft gegriffen, da die Reisenden »viel mehr Werte« in Form von Waren mitbringen, als im Gegenwert in der DDR zu kaufen wäre.

  • Die Maßnahmen würden der »Gier« der DDR nach Westgeld entspringen, welches die DDR dringend zur Abwicklung ihrer Außenhandelsgeschäfte benötige.

  • Die niedrigeren Gaststättenpreise in der DDR brauchten nicht als Argument der DDR angeführt werden, da die meisten Besucher bei ihren Verwandten verpflegt würden.

Überwiegend werden derartige »Argumente« von Rentnern, Jugendlichen und nichtberufstätigen Personen der BRD und Westberlins vorgebracht.

Geschäftsreisende (der BRD) äußerten dagegen wiederholt, dass ihnen die Erhöhung des Mindestumtausches »nichts ausmache und sie einen Fonds finden, wo dies abgebucht werden könne«.

Selbstständige Handwerker, Angestellte und Beamte finden sich – wie aus diesbezüglichen Äußerungen zu entnehmen war – überwiegend mit der Neuregelung ab, sehen jedoch in diesen Maßnahmen die Gefahr einer möglichen Verschlechterung der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD.

Einreisende ausländische Gastarbeiter (aus Westberlin) äußerten sich verärgert über die Neuregelung, da sie nur die »Kleinen« treffen würden. Viele von ihnen hätten in Westberlin keine Arbeit und würden die bisherigen Möglichkeiten nutzen, um in der Hauptstadt billig essen zu können.

Unter diesen Gastarbeitern befindliche Bürger der SFRJ äußerten, dass es ungerecht sei, wenn diese Maßnahmen auch auf sie angewandt werden. Das würde u. a. der Einschätzung unserer Parteiführung widersprechen, dass die Hauptstadt der DDR eine weltoffene Stadt sei.

Vereinzelt wurde geäußert, dass man bei Einreisen über das Wochenende nicht viel mit dem umgetauschten Geld anfangen könne, da keine Geschäfte geöffnet hätten.

Seit der Bekanntgabe der Neuregelung des verbindlichen Mindestumtausches am 5.11.1973 kam es in den Büros für Besuchs- und Reiseangelegenheiten in Westberlin zu einem sprunghaften Anstieg der Beantragung von Einreisen in die DDR für die Tage bis zum 15.11.1973.

So wurden z. B. in der Woche vom 5. bis 9.11.1973 insgesamt 54 318 Einreiseanträge gestellt, das entspricht im Vergleich zur Vorwoche (40 174 Anträge) einer Steigerung um 35 %.

In diesem Zusammenhang äußerten viele Westberliner, dass sie noch einmal vor dem 15.11.1973 einreisen möchten, um Geld zu sparen.

Aus den allgemeinen in diesen Büros geführten Diskussionen war zu annähernd gleichen Teilen zu entnehmen,

  • dass diese Westberliner Bürger in Zukunft nicht mehr so oft in die DDR einreisen werden,

  • dass sich im Wesentlichen keine größeren Probleme daraus ergeben, da sie dieses Geld für ihre Einreisen (insbesondere für einen eintägigen Aufenthalt in der Hauptstadt) sowieso benötigen würden.

Mehrfach fragten Personen im Rentenalter nach, ob es dabei bliebe, dass auch sie von den neuen Maßnahmen betroffen werden.

Auswirkungen der Veröffentlichung der Neuregelung des verbindlichen Mindestumtausches auf die Entwicklung des grenzüberschreitenden Verkehrs aus nichtsozialistischen Staaten und Berlin (West) in die DDR

Erste unmittelbare Auswirkungen auf den Umfang des grenzüberschreitenden Verkehrs zeichneten sich seit dem vergangenen Wochenende ab. Während vom Zeitpunkt der Veröffentlichung (Montag, 5.11.1973) bis Freitag (9.11.1973) im Vergleich zur Vorwoche keine wesentlichen Veränderungen sichtbar wurden, erhöhten sich die Reiseströme in der Zeit vom 10.11. bis 13.11.1973 (im Vergleich zur Vorwoche, 3. bis 6.11.1973) um 24 %.

Dazu folgende Übersicht:

1. Einreisen auf Visa in die DDR

[Personen]

10.–13.11.1973

(3.–6.11.1973)

BRD-Bürger

21 182

17 964

davon in grenznahe Gebiete

13 711

10 508

Einwohner von Berlin (West)

65 456

46 533

Bürger anderer nichtsozialistischer Staaten

2 467

1 908

Gesamt

102 816

(76 913)

2. Einreisen zum Tagesaufenthalt in die Hauptstadt

[Personen]

10.–13.11.1973

(3.–6.11.1973)

BRD-Bürger

19 399

20 566

Bürger anderer nichtsozialistischer Staaten (ZV 2748)

6 928

6 823

Gesamt

26 327

(27 389)

Aus dieser Entwicklung wird sichtbar, dass insbesondere Einwohner von Berlin (West) (Erhöhung um 51 % gegenüber vergleichbarem Zeitraum der Vorwoche) und Bürger der BRD zum Tagesaufenthalt in grenznahen Gebieten der DDR (Erhöhung um 30 %; wobei am Sonntag mit 8 808 Einreisen die bisher höchste Einreisezahl seit dem Inkrafttreten dieser Regelungen – 5 773 – zu verzeichnen war), d. h. Personen, denen Möglichkeiten der kurzfristigen Beantragung und Einreise eingeräumt wurden, verstärkt einreisten.

In allen anderen Kategorien der Einreise zeigten sich bisher keine Veränderungen.

  1. Zum nächsten Dokument Reise-, Touristen- und Transitverkehr Oktober 1973

    20. November 1973
    Information Nr. 1186/73 über den Umfang des grenzüberschreitenden Reise-, Touristen- und Transitverkehrs im Monat Oktober 1973

  2. Zum vorherigen Dokument Bekennende Evangelisch-Lutherische Kirche Sachsens

    15. November 1973
    Information Nr. 1172/73 über Äußerungen Bischof Fränkels/Görlitz auf einem Gemeindeabend der Bekennenden Evangelisch-Lutherischen Kirche Sachsens in Dresden