Reaktionen auf antisowjetische Aktivitäten in der UdSSR
22. Oktober 1973
Information Nr. 1040/73 über die Reaktion von Wissenschaftlern und Geistesschaffenden der DDR auf die antisowjetischen Aktivitäten Intellektueller in der UdSSR
Dem MfS wurden eine Reihe Reaktionen von Wissenschaftlern und Geistesschaffenden der DDR, darunter auch Mitgliedern und Mitarbeitern der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW),1 zu der öffentlichen Auseinandersetzung mit antisowjetisch eingestellten Intellektuellen wie Sacharow,2 Solschenizyn,3 Jakir4 und Krasin5 bekannt.6
Generell kann eingeschätzt werden, dass
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die Diskussionen dazu vom Umfang und von der Intensität her nicht vordergründig sind,
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die Diskussionen hauptsächlich zu Sacharow geführt werden,
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die Person Sacharow, seine wissenschaftlichen Leistungen und politischen Ansichten nicht oder nur sehr wenig bekannt sind.
Inhalt und Form der Diskussionen sind im Wesentlichen beschränkt auf persönliche Stellungnahmen und Kommentare.
Durch Mitglieder und Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR wird in ihren Diskussionen mehrfach auf Erklärungen der Vertreter der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion,7 in denen das antisowjetische Verhalten von Sacharow verurteilt wird, Bezug genommen.
Obwohl in Gesprächen von DDR-Wissenschaftlern darauf verwiesen wird, dass es für sie kompliziert sei, einen objektiven Standpunkt einzunehmen, da sie keine detaillierten Kenntnisse von den staatsfeindlichen Aktivitäten Sacharows haben, wird ihre Meinungsbildung maßgeblich beeinflusst durch das hohe wissenschaftliche und persönliche Ansehen der sowjetischen Akademiemitglieder, die die Erklärung gegen Sacharow unterzeichneten. Zu ihnen gehören Wissenschaftler, mit denen im Rahmen der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit eine enge persönliche Verbindung besteht und deren Wort auch unter DDR-Wissenschaftlern großes Gewicht hat.
Von einer Reihe Wissenschaftlern werden die in westlichen Kommunikationsmitteln organisierten Veröffentlichungen im Zusammenhang mit den Kollaborateuren Jakir, Krasin und Sacharow als gesteuerte Hetzkampagne gegen die Sowjetunion und die sozialistische Staatengemeinschaft gewertet, die das Ziel haben, den Prozess der Entspannung in Europa8 zu stören.
In Argumenten wird wiederholt das Verhalten Sacharows verurteilt. Dabei wird er als eine bewusst der sowjetischen Friedenspolitik entgegenwirkende Kraft eingeschätzt, die den friedens- und sowjetfeindlichen Kräften in die Hände spielt.
Typisch in den Argumenten, die das sowjetfeindliche Verhalten insbesondere Sacharows verurteilen und die vom Umfang her die Mehrzahl bilden, sind folgende Diskussionen und Aussagen:
So verurteilte der Präsident der Akademie der Wissenschaften der DDR, Prof. Klare,9 in persönlichen Gesprächen das Auftreten Sacharows als verwerflich, zumal die zurückliegenden Monate in eindrucksvoller Weise das Bemühen der sowjetischen Partei und Regierung um eine erfolgreiche Entspannungspolitik sichtbar gemacht hätten.
Prof. Kautzleben10 (Zentralinstitut für Physik der Erde/Potsdam) verurteilte die Haltung Sacharows und hält das Hochspielen seiner Person durch westliche Kommunikationsmittel für den Versuch einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Sowjetunion.
Gleichzeitig sieht er darin den Versuch, die zweite Etappe der Sicherheitskonferenz11 zu torpedieren.
Prof. Schirmer12 (Zentralinstitut für Physikalische Chemie) distanzierte sich vom Auftreten Sacharows und vertrat die Meinung, dass es sich bei Sacharow und Gleichgesinnten um eine sehr kleine Gruppe von Intellektuellen handele, die den Kontakt zur Wirklichkeit in der UdSSR verloren und daher dort auch keine Resonanz haben.
Prof. Böhme13 (Zentralinstitut für Genetik und Kulturpflanzenforschung Gatersleben), der das Auftreten Sacharows ebenfalls als antisowjetisch und gegen die Staatsordnung gerichtet einschätzte, äußerte, insbesondere müsse die Pressekonferenz, die Sacharow mit ausländischen Journalisten in seiner Wohnung gegeben habe, verurteilt werden.14 Dabei äußerte Prof. Böhme Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit Sacharows.
Im Zentralinstitut für Philosophie wurde von einer Reihe namhafter Mitarbeiter angeführt, man müsse erkennen, dass es den Entspannungsfeinden nicht allein um die Person Sacharow gehe, sondern dieser als »Objekt schamloser Ausnutzung« diene, um auch mit diesen Mitteln die Entspannung in Europa zu torpedieren und Intellektuelle in den sozialistischen Staaten durch ideologische Diversion aufzuweichen.
Verurteilungen der Haltung Sacharows wurden u. a. auch von folgenden Intellektuellen bekannt:
Prof. Grote15/Generalsekretär der Akademie der Wissenschaften der DDR, Prof. Hartke16/Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR und bis 1968 ihr Präsident.
Gleichfalls distanzierten sich Kultur- und Geistesschaffende aus allen Bereichen, insbesondere auch der DEFA17 und des VEB Progress,18 vom Auftreten und Verhalten solcher Personen wie Sacharow, Solschenizyn, Jakir und Krasin. Relativ übereinstimmend werden dabei die antisowjetischen Aktivitäten dieser Intellektuellen als Ausdruck und Bestätigung der Verschärfung des ideologischen Klassenkampfes sowie als gegen den Entspannungsprozess in Europa gerichtete feindliche Initiativen gewertet.
Diese Meinung vertraten u. a. auch Hermann Kant19/Vizepräsident des Schriftstellerverbandes der DDR, Anna Seghers20 und der Fernsehautor Karl Egel.21
Neben diesen vom Umfang her am stärksten auftretenden eindeutigen Verurteilungen dieser antisowjetischen Kräfte wurden in der Argumentation bestimmter Intellektueller der DDR einige politisch unklare und indifferente Tendenzen festgestellt, die bemerkenswert erscheinen und im Folgenden kurz dargestellt werden:
So gab es in einigen Fällen kritische Bemerkungen zur Informationspolitik der DDR-Massenmedien. Zum Beispiel stellte Dr. Oertel22/Akademie der Wissenschaften der DDR (ehemaliger Aspirant in der Sowjetunion) u. a. die Frage, warum keine konkrete Information über die Ausfälle Sacharows erfolgten.
Ebenfalls Forderungen nach detaillierter Information und öffentlicher Darlegung von Äußerungen Sacharows gab es u. a. im Institut für Wissenschaftsorganisation, im Bereich der Leipziger AdW-Institute, im Rechenzentrum der AdW sowie von einzelnen Kulturschaffenden der DDR (z. B. Paul Wiens)23.
Einzelne Wissenschaftler äußerten, sie träfen bei Auslandsreisen auf konkrete Erscheinungsformen der imperialistischen Hetzkampagne, ohne hierzu infolge mangelhafter Vorkenntnisse sofort eine Meinung äußern zu können.
Einzelne Intellektuelle äußerten offen, sie würden sich mangels fehlender konkreter Informationen auf anderen Kanälen und Sendern informieren und die Veröffentlichungen dort aus Interesse am Gesamtproblem verfolgen.
Einzelne dem MfS namentlich bekannte Wissenschaftler und Kulturschaffende äußerten meist individuell oder im engeren Kreis, ohne dass diese Meinungen eine größere Wirksamkeit erzielten:
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Es müsse Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Anschuldigungen gegenüber Sacharow hervorrufen, dass bekannte und prominente Akademiemitglieder und Kulturschaffende der Sowjetunion die Anti-Sacharow-Resolutionen nicht unterzeichnet hätten.
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Die antisowjetische Haltung Sacharows sei auf persönliche Verärgerung zurückzuführen.
Man müsse in Rechnung stellen, dass Reisebeschränkungen, »zensierte« Publikationen, Bevormundung, Administration, Formalismus und Bürokratie, wie sie zum Teil in der Sowjetunion anzutreffen seien, eine solche persönliche Verärgerung hervorrufen könnten.
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Man müsse von der Überzeugung abrücken, dass es in der Sowjetunion nur überzeugte Kommunisten gäbe. Es bestünden dort größere innere Schwierigkeiten, als das im Allgemeinen bekannt wäre.
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Unklar seien die Motive, warum die UdSSR auf die westliche Kampagne im Zusammenhang mit Sacharow überhaupt in dieser Breite eingehe und nicht die gleiche Taktik wie die DDR in den Fällen Havemann24/Biermann25 einschlage, die durch Isolierung keinerlei Resonanz mehr erreichen würden.
Beachtenswert erscheint folgende Tendenz:
Von Auslandsreisen berichten u. a. Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR, dass wissenschaftliche Veranstaltungen in kapitalistischen Ländern zunehmend zur politischen Agitation gegen die Sowjetunion missbraucht werden.
So berichtet Dr. Kundt,26 Institut für Hochenergiephysik Zeuthen, dass während der Abschlussansprache des 6. Internationalen Symposiums über Elektronen- und Photonwechselwirkung der CERN (Bonn, 26.8. bis 1.9.1973) der Direktor dieses internationalen Zentrums, Prof. Jentschke,27 mit Erfolg eine Störung durch einen amerikanischen Physiker zurückwies, der eine Solidaritätserklärung mit antisowjetischen Äußerungen von Sacharow verlesen wollte.
Genosse Prof. Kühn28 (Zentralinstitut für Kernforschung Rossendorf ) berichtet, dass gegen Ende der Internationalen Kernphysikkonferenz (München, 27.8. bis 1.9.1973) bestimmte Kreise, die anonym bleiben wollten, ein Flugblatt verteilten, in dem über die Aktionen Sacharows und die Stellungnahme von 40 Mitgliedern der sowjetischen Akademie der Wissenschaften gegen ihn informiert wurde.
Offensichtlich war beabsichtigt, damit eine antisowjetische Diskussion in Gang zu bringen. Das Organisationskomitee hat auf Intervention des Leiters der Delegation des Vereinigten Kernforschungszentrums Dubna die Flugblätter sofort einsammeln lassen.
Genosse Prof. Schirmer (Zentralinstitut für Physikalische Chemie) teilte nach der Teilnahme an der Dritten Internationalen Konferenz über Molekularsiebe (Zürich, 2.9. bis 9.9.1973) mit, dass während der Tagung von Wissenschaftlern aus kapitalistischen Ländern das von der Westpresse hochgespielte Verhalten von Sacharow diskutiert wurde, in dem einige der Anwesenden einen »Vorkämpfer« für Formen der bürgerlichen Demokratie sehen.
Nach seinen Eindrücken versucht die Westpresse zurzeit, einen bestimmten Einfluss auf Intellektuelle in kapitalistischen Ländern auszuüben.
Während der Generalkonferenz des Internationalen Komitees für Daten in Wissenschaft und Technik (CODATA)29 vom 9.9. bis 13.9.1973 in Stockholm wurde die Mitteilung des CODATA-Präsidenten, die sowjetischen Wissenschaftler hätten wegen Differenzen zwischen Schweden und der UdSSR durch die schwedische Regierung keine Einreiseerlaubnis erhalten, durch einige Wissenschaftler so kommentiert, dass diese Differenzen offenbar mit einer Stellungnahme des schwedischen Ministerpräsidenten zusammenhänge, der die sowjetische Regierung in der Angelegenheit Sacharow angegriffen habe.
Genosse Prof. Stiller30 berichtete von seiner Reise zum Institut für Physik der Erde der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (Moskau, 31.8. bis 6.9.1973) und Gesprächen mit dessen wissenschaftlichem Hauptsekretär, dass ihm erklärt wurde, dass man bei älteren Akademiemitgliedern des Öfteren gewissen Eigentümlichkeiten begegne und solchen Dingen mit einer relativen Gelassenheit gegenüberstehe. Man sei der Meinung, dass Sacharow seine Position wesentlich überschätze und die Dinge zu weit getrieben habe.
Der Klärungsprozess mit Sacharow würde seitens der sowjetischen Akademie der Wissenschaften im Sinne der Abgrenzung und von gezielten Gegenmaßnahmen konsequent beendet werden.
Auf dem Internationalen Philosophenkongress (Varna, 16.9. bis 22.9.1973) hat es keine Diskussionen zu den Auseinandersetzungen mit Sacharow u. a. gegeben.
Das gleiche trifft auch auf folgende Veranstaltungen im NSW zu:
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XIII. Internationaler Kongress für Genetik 20. bis 29.8.1973 in Berkeley/Californien, USA
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1. Weltkongress für Rechts- und Sozialphilosophie 6. bis 13.9.1973 in Madrid, Spanien
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XVII. Colloquium Spectroscopicum Internationale31 16. bis 22.9.1973 in Florenz, Italien