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Reaktionen auf das Ableben von Walter Ulbricht

6. August 1973
Information Nr. 781/73 über Reaktionen und Meinungsäußerungen im Zusammenhang mit dem Ableben des Genossen Walter Ulbricht

Im Stimmungsbild der Bevölkerung der DDR nehmen das Ableben des Genossen Walter Ulbricht1 und die damit im Zusammenhang stehende Vorbereitung der Trauerfeierlichkeiten einen breiten Raum ein. In allen Bevölkerungsschichten werden mit großer Anteilnahme das Leben und die Verdienste des Genossen Walter Ulbricht als Partei- und Staatsfunktionär gewürdigt.

Alle vorliegenden Informationen weisen aus, dass negative Diskussionen, Gerüchte und Spekulationen zwar in allen Bevölkerungsschichten auftraten, jedoch generell als Einzelmeinungen einzuschätzen sind, die keine Massenbasis erreichen.

Die Reaktionen und Meinungsäußerungen der Bevölkerung können in folgenden hauptsächlichen Tendenzen zusammengefasst werden:

  • Große Anteilnahme am Ableben, verbunden mit einer hohen Wertschätzung der Tätigkeit des Genossen Walter Ulbricht als Staats- und Parteifunktionär;

  • differenzierte Meinungsäußerungen zu den veröffentlichten Meldungen zum Ableben und zur Staatstrauer am 7. August 1973;2

  • Gerüchte und Spekulationen über personelle Besetzung der Funktion und die Bedeutung des Staatsrates;3

  • vereinzelte Meinungsäußerungen zu einer »politischen Abwertung« des Genossen Walter Ulbricht in den letzten zwei Jahren.

Die Anteilnahme am Ableben, verbunden mit der hohen Wertschätzung des politischen Wirkens des Genossen Walter Ulbricht, bildet den Schwerpunkt der Reaktionen und muss als typisch für das Stimmungsbild für alle Bevölkerungsschichten betrachtet werden. Wesentlichen Raum in den Meinungsäußerungen dazu nahmen Argumente ein, wie

  • die Würdigung des Wunsches von Genossen Walter Ulbricht zur Fortsetzung der X. Weltfestspiele,4 was die von ihm immer gezeigte herzliche Verbundenheit zur Jugend nochmals besonders unterstreiche;

  • die Betonung der großen Verdienste um die Entwicklung der DDR als sozialistischer Staat;

  • die Zustimmung zu den von der Partei- und Staatsführung beschlossenen Maßnahmen der Staatstrauer am 7. August 1973, wobei die Festsetzung des Termins nach den X. Weltfestspielen als »besonders günstig« bezeichnet wird;

  • zustimmende Meinungen zum veröffentlichten Nachruf des ZK der SED.5

Darüber hinaus wird in einer Reihe von Einschätzungen hervorgehoben, dass selbst solche Personen, die sonst eine negative Position zur DDR beziehen, das Wirken des Genossen Walter Ulbricht positiv bewerten.

Im geringen Umfang, aber in allen Bezirken auftretend, führten die veröffentlichten Meldungen zum Ableben des Genossen Walter Ulbricht und zur angesetzten Staatstrauer zu Diskussionen, die von der Tendenz her zwar keinen staatsfeindlichen Charakter tragen, inhaltlich jedoch den Wahrheitsgehalt der Veröffentlichungen in Zweifel stellen.

Dabei traten mit geringfügigen Abweichungen Meinungen in fast allen Bezirken der Republik auf, in denen

  • der Wunsch Walter Ulbrichts zur Fortsetzung der X. Weltfestspiele stark angezweifelt wird, da nach dem ärztlichen Bulletin über die eingetretenen Komplikationen6 eine solche Reaktion für unwahrscheinlich gehalten wird;

  • dieser Wunsch des Genossen Walter Ulbricht als »geschickter taktischer Schachzug« der Parteiführung eingeschätzt wird, der es ermöglicht, die X. Weltfestspiele zu beenden, ohne dass irgendwelche Einschränkungen verfügt werden müssten.

Weiter werden von geringen Bevölkerungsteilen, darunter auch teilweise von Parteimitgliedern, Spekulationen angestellt und folgende Diskussionen geführt:

  • Die Staatstrauer von einem Tag und die nur dreistündige Aufbahrung seien zu kurz. Die Verdienste Walter Ulbrichts um die DDR wären mindestens so groß, wie die von Wilhelm Pieck7 und Otto Grotewohl,8 sodass eine dreitägige Staatstrauer wie bei den beiden genannten Repräsentanten der DDR angemessener wäre.

  • Eine Unterbrechung der X. Weltfestspiele – zumindest eine zeitweilige – in Anbetracht der Persönlichkeit Walter Ulbrichts wäre notwendig gewesen. Offensichtlich hätten aber andere Interessen im Vordergrund gestanden, die Auswirkungen auf den Ablauf des Festivals verhindert hätten.

  • Es wäre richtiger und notwendig gewesen, ein Gedenkmeeting für Walter Ulbricht zu veranstalten, um ausländischen Delegationen Gelegenheit zu Kondolenzen zu geben.

  • Der Nachruf im ND deute auf bisher in der Öffentlichkeit nicht bekannte »politische Fehler« Walter Ulbrichts hin, da seine wichtigste Tätigkeit als erster Sekretär der SED im Vergleich zu den anderen Funktionen »ungenügend gewürdigt« worden sei.

  • Im Zusammenhang damit stünde auch ein Aufenthalt von Lotte Ulbricht9 im Ausland. (Dabei werden als angebliche Gastländer die Sowjetunion, Schweden, Schweiz und BRD angegeben.)

Spekulationen und Gerüchte um die personelle Neubesetzung des Amtes des Staatsratsvorsitzenden sind vom Umfang her relativ gering und beinhalten vorwiegend die Meinung, dass

  • die Genossen Stoph,10 Ebert11 oder Sindermann12 als »erste Anwärter« auf das Amt des Staatsratsvorsitzenden bezeichnet wurden,

  • das Amt des Staatsratsvorsitzenden und das des Ersten Sekretärs des ZK der SED wohl in einer Person, nämlich bei Genossen Erich Honecker,13 vereint würden.

In mehreren Fällen wurde durch Einzelpersonen die Existenzberechtigung des Staatsrates der DDR nach dem Erlass des Gesetzes über den Ministerrat infrage gestellt und geäußert, dass die Schaffung eines Präsidentenamtes mit überwiegender Repräsentationsfunktion die wohl beste Lösung wäre.

Gerüchte und Spekulationen über eine angebliche politische Abwertung der Persönlichkeit des Genossen Walter Ulbricht in den letzten zwei Jahren sind nach bisherigen Feststellungen gleichfalls Einzelmeinungen, jedoch in den verschiedensten Bevölkerungsschichten vorhanden.

Sie lassen sich in folgenden Tendenzen zusammenfassen:

  • die »politische Abwertung« sowie die »Ablösung« als Erster Sekretär des ZK der SED resultiere vordergründig aus »Meinungsverschiedenheiten« mit den Genossen der KPdSU;

  • diese »politische Abwertung« wurde durch die Umbenennung von Betrieben und Einrichtungen (Leuna-Werke,14 Hochschule für Staat und Recht der DDR,15 Stadion der Weltjugend16), die den Namen Walter Ulbrichts trugen, sowie die immer »stärkere Beschränkung« seiner Befugnisse (Gesetz über den Ministerrat17) bestätigt.

Im geringen Umfang erfolgte eine Kommentierung der »Ablösung« Walter Ulbrichts als »Ergebnis innenpolitischer Machtkämpfe« innerhalb der Partei- und Staatsführung der DDR. Die Feststellungen gipfeln in weiteren Einzelmeinungen in der Ansicht, dass diese Maßnahmen wesentlich zum »physischen Verfall« des Genossen Walter Ulbricht beigetragen hätten.

Verschiedentlich wird die zu erwartende Beteiligung von Repräsentanten sozialistischer Staaten an den Trauerfeierlichkeiten am 7. August 1973 als »Maßstab der Wertung der Persönlichkeit des Genossen Walter Ulbricht« betrachtet, wobei eine geringe Beteiligung vorgenannte »Argumente« bestätigen würde.

  1. Zum nächsten Dokument Steinwurf über die Staatsgrenze aus Westberlin

    6. August 1973
    Information Nr. 782/73 über eine Grenzprovokation an der Staatsgrenze nach Westberlin am 4. August 1973

  2. Zum vorherigen Dokument Festnahme eines US-Bürgers wegen Ausschleusung von Polen

    6. August 1973
    Information Nr. 779/73 über die Festnahme eines USA-Bürgers deutscher Nationalität wegen versuchter Ausschleusung polnischer Staatsbürger nach Berlin (West)