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Straftaten im Glasseidenwerk Oschatz

8. November 1973
Information Nr. 1139/73 über die Begehung von Straftaten gegen die Volkswirtschaft der DDR beim Aufbau des Investvorhabens »Glasseidenwerk Oschatz«

Durch das MfS wurde gegen den Berger, Ernst1 geboren [Tag, Monat] 1911, zuletzt Bereichsleiter im VEB Glasinvest Radebeul,2 Bereich Oschatz, wohnhaft Oschatz, [Straße, Nr.], Mitglied der SED, wegen dringenden Verdachts begangener Straftaten gegen die Volkswirtschaft der DDR ein Ermittlungsverfahren mit Haft eingeleitet.

Berger wird beschuldigt, die ihm als Direktor für Investitionen und als Abteilungsleiter des VEB Glasinvest Radebeul übertragene Vertrauensstellung beim Aufbau des Investitionsvorhabens »Glasseidenwerk Oschatz«3 missbraucht und Entscheidungen getroffen zu haben, mit denen er der Volkswirtschaft der DDR vorsätzlich einen bedeutenden ökonomischen Schaden zufügte und persönliche Vorteile erlangte.

In den noch laufenden Untersuchungen hat sich bisher bestätigt, dass Berger seit 1966 die ihm in verantwortungsvollen Funktionen übertragenen Verfügungs- und Entscheidungsbefugnisse entgegen verbindlicher Rechtspflichten zum Schaden der Volkswirtschaft der DDR missbraucht und die italienische Firma ICIET4 begünstigt hat.

Der Beschuldigte hat durch irreführende und falsche Informationen und unter Verletzung der ihm durch Funktion, Kenntnisse und Erfahrungen obliegenden Pflichten bewusst bewirkt, dass die italienische Firma ICIET endgültig als Lieferant der Glasseidenanlage für das Investvorhaben Oschatz festgelegt wurde, obwohl ihm bekannt war, dass ICIET keine Erfahrungen und ausreichende Voraussetzungen für die Errichtung und den Betrieb von Glasseidenanlagen besaß.

Der B. hat darüber hinaus durch gutachterliche Tätigkeit, Preisgabe technischer, kommerzieller und handelspolitischer Informationen – wobei teilweise konspirative Methoden angewandt wurden – sowie durch Mitwirkung an der Angebotsabfassung die Firma ICIET in die Lage versetzt, ein hohes technisches Leistungsvermögen vorzutäuschen und sich gegenüber vorliegenden Angeboten anderer Firmen durchzusetzen.

Er hat weiterhin bewusst dazu beigetragen, dass bei Vorbereitung und Abschluss des erforderlichen Importvertrages mit der Firma ICIET die die Rentabilität des zu errichtenden Glasseidenwerkes bestimmenden Parameter nicht aufgenommen und die Verpflichtungen des Lieferanten weitestgehend unverbindlich gehalten wurden.

B. hat die Firma ICIET darüber hinaus begünstigt, indem er unter Missbrauch seiner Entscheidungsbefugnis und durch Vortäuschung falscher Tatsachen ungerechtfertigte Terminverzüge und Mängel, insbesondere bei der Übergabe bzw. Vollständigkeit der Grundkonzeption zu einem sicheren und stabilen Betreiben der Anlage, akzeptierte bzw. deckte. Dadurch wurde die planmäßige Inbetriebnahme des Investitionsvorhabens entscheidend verzögert, wobei B. versuchte, diese Verzögerungen als durch den VEB verursacht darzustellen.

Zu den Problemen im Einzelnen:

Berger wurde 1960 als Aufbauleiter für das Staatsplanvorhaben »Glasseidenwerk Oschatz« eingesetzt. Aufgrund struktureller Veränderungen im Industriezweig Glas ergaben sich in der Folgezeit für den Beschuldigten Änderungen in der Funktionsbezeichnung und im Unterstellungsverhältnis.5 Das änderte allerdings nichts daran, dass B. bis Ende 1972 stets unmittelbar für das Vorhaben Oschatz verantwortlich war und über maßgeblichen Einfluss auf die Vertragsbeziehungen zur Firma ICIET verfügte.

Im Jahre 1965 wurde Berger in seiner Funktion als kommissarischer Werkdirektor des VEB Glasseidenwerk Oschatz durch den Generaldirektor der damals zuständigen VVB Bauglas als verantwortlicher Vertreter der Industrie für die Vorbereitung und den Abschluss der Verträge für die notwendigen Anlagenimporte eingesetzt und zum Vertragsabschluss ermächtigt.

In diesem Zusammenhang führte Berger im August 1966 Referenzreisen nach Italien und Großbritannien durch, in deren Ergebnis ihm bekannt wurde, dass die Firma ICIET zum Unterschied von anderen Angeboten weder von ihrer Betriebsgröße und Bonität noch von ihrem technischen Leistungsvermögen her die Gewähr für eine qualitäts- und termingerechte Erfüllung des geplanten Importauftrages bot.

(Die Firma ICIET hatte bis zu diesem Zeitpunkt nur Schaltschränke, Steuerpulte sowie Teilausrüstungen hergestellt, keinesfalls aber Glasseidenanlagen, die nach dem Direktschmelzverfahren arbeiten.

Die Firma verfügte über ein Betriebskapital von nur ca. 33 500 DM, woraus sich bei dem zu erwartenden Geschäft über ca. 34 Mio. VM eine Sicherheit von nur 1 : 1000 ergab.

Zum Zeitpunkt der Referenzreise beschäftigte die Firma auch nicht die erforderlichen Fachleute, sondern gedachte, diese zur Bearbeitung des Auftrages erst einzustellen.)

Der Beschuldigte unterließ es vorsätzlich, wahrheitsgemäß über diese von ihm getroffenen Feststellungen zu berichten, wozu er neben anderen rechtsverbindlichen Normen in der ihm schriftlich erteilten Vollmacht für die Vertragsverhandlungen noch einmal ausdrücklich verpflichtet worden war.

Berger, der zugibt, von Vertretern der Firma ICIET umfangreiche Korruptionsgeschenke insbesondere finanzieller Art angenommen zu haben, machte im Gegenteil seinen persönlichen Einfluss, den er aufgrund durchaus vorhandener fachlicher Fähigkeiten auf den Gebieten der Bauprojektierung und Bauausführung besaß, geltend, den Vertragsabschluss mit der italienischen Firma zu forcieren.

Im Ergebnis der auf Betreiben des Beschuldigten und von ihm mit vorgenommenen Vertragsunterzeichnungen vom 1.10.1966 und 30.3.1970 sind der Volkswirtschaft der DDR insbesondere durch die von Berger und der Firma ICIET verursachten Störfaktoren große ökonomische Verluste entstanden.

Die effektiv eingetretenen ökonomischen Verluste und die Nachteile, die insbesondere im Hinblick auf die Realisierung getroffener Festlegungen zur Verwirklichung der sozialistischen ökonomischen Integration entstanden sind, werden gegenwärtig ermittelt.

Tatsache ist jedoch, dass die an den VEB Glasseidenwerk Oschatz als alleinigen Produzenten von Glasseide und Glasseidenerzeugnissen in der DDR geknüpften volkswirtschaftlichen Erwartungen bisher nicht realisiert werden konnten.

Trotz erheblicher Überschreitungen der vorgesehenen Investitionssumme beträgt die Jahresproduktionskapazität gegenwärtig nur 45 bis 50 Mio. Mark, Warenproduktion gegenüber einer vorgesehenen von 90 bis 100 Mio. Mark.

Nach gutachterlichen Einschätzungen liegen die Ursachen für diesen Zustand maßgeblich in den unausgereiften, störanfälligen, in ihren Teilen kapazitiv miteinander nicht übereinstimmenden Anlagen der Firma ICIET, die auch insgesamt die geplanten Kapazitäten nicht erreichen.

Auch die an den Anlagen der Firma ICIET aufgetretenen Havarien und damit verbundenen Leistungsausfälle sind in erster Linie auf die von den Anlagen ausgehenden Störfaktoren zurückzuführen.

Der in diesem Zusammenhang eingetretene Schadensumfang wird von Experten gegenwärtig noch exakt ermittelt, beträgt nach bisher vorliegenden Angaben jedoch über 17 Mio. Mark.

(In dieser Summe sind notwendige außerplanmäßige Importe an Glasseide nicht enthalten.)

Der Beschuldigte Berger hat allein durch nicht berechnete Vertragsstrafen einen Schaden von ca. zwei Mio. Valutamark verursacht.

Über die für die Straftaten des Berger ursächlichen Motive liegen noch keine umfassenden Erkenntnisse vor. Es kann deshalb beim gegenwärtigen Stand der Untersuchungen auch noch nicht beurteilt werden, ob den begangenen Straftaten die Erlangung persönlicher Vorteile als alleiniges Motiv zugrunde lag.

Die Ausrüstung des Glasseidenwerkes Oschatz mit den technisch unzulänglichen und demzufolge äußerst störanfälligen Anlagen der Firma ICIET wurde – unabhängig von den strafbaren Handlungen des Berger – jedoch auch dadurch möglich, weil bei der Vorbereitung der Gestaltung und der Kontrolle der Erfüllung der Verträge weitere verantwortliche Mitarbeiter des Industriezweiges oftmals sehr sorglos handelten und damit erhebliche Pflichtverletzungen begingen bzw. duldeten.

Diese Schwächen wirkten neben darüber hinaus im Glasseidenwerk vorhandenen Mängeln in der Leitungstätigkeit, bei der Produktionsorganisation und in der Arbeitsdisziplin begünstigend auf die Durchführung der Straftaten des Berger und trugen dazu bei, dessen Machenschaften für einen längeren Zeitraum zu verschleiern.

Die Aufklärung der Straftaten einer Reihe inzwischen rechtskräftig verurteilter Mitarbeiter des Industriezweiges »Technisches Glas« führten zur Wiederherstellung der sozialistischen Gesetzlichkeit, der Durchsetzung der Prinzipien von Sicherheit und Ordnung und zur Erhöhung der Klassenwachsamkeit im Industriezweig.6

Ende des Jahres 1972 erfolgte die Umsetzung des Berger, der bis zu diesem Zeitpunkt Aufbauleiter für das Investvorhaben »Glasseidenwerk Oschatz« war, in eine andere Funktion.

Zur Stabilisierung der Produktion im VEB Glasseidenwerk Oschatz wurde zu Beginn des Jahres 1973 eine Arbeitsgruppe unter Leitung des Ministers für Glas- und Keramische Industrie tätig.

Die Schlussfolgerungen aus den bei der Aufklärung anderer Straftaten im Industriezweig »Technisches Glas« sichtbar gewordenen Mängel und Missstände – auf dem Gebiet der Leitung und Kontrolle,

  • bei der Einhaltung von Sicherheit und Ordnung,

  • bei der Gewährleistung des Geheimnisschutzes und der Erhöhung der sozialistischen Wachsamkeit,

  • in der Arbeit mit gesetzlichen Bestimmungen,

  • bei der planmäßigen Verwirklichung der sozialistischen ökonomischen Integration und der politisch-ideologischen Erziehung der dazu eingesetzten Kader

haben ihren Niederschlag in Weisungen und praktischen Maßnahmen der zuständigen staats- und wirtschaftsleitenden Organe sowie im Beschluss des Ministerrates vom 9.5.1973 zur weiteren Entwicklung des Industriezweiges »Technisches Glas« gefunden.7

Diese Schlussfolgerungen sollten insbesondere auch im VEB Glasseidenwerk Oschatz, wo sich vorgenannte Mängel und Missstände in gleicher Weise zeigten, konsequent durchgesetzt werden.

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    [ohne Datum]
    Information Nr. 1152/73 über die Versorgungssicherheit mit Elektroenergie, Gas und festen Brennstoffen im Winterhalbjahr 1973/74

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    8. November 1973
    Information Nr. 1124 über die zweite Vollversammlung der Pastoralsynode der katholischen Kirche in der DDR vom 19. bis 21. Oktober 1973 in Dresden