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Suizid des Parteisekretärs der Ingenieurhochschule Wismar

16. Februar 1973
Information Nr. 145/73 über den Selbstmord des Parteisekretärs der Ingenieurhochschule Wismar, Herbert Lentzsch, am 20. Januar 1973 in Berlin-Karlshorst

Zu den Umständen des Selbstmordes des Genossen Lentzsch1 wurde dem MfS Folgendes bekannt:

Der Genosse Lentzsch, Herbert geboren am [Tag, Monat] 1924, wohnhaft gewesen Wismar, [Straße. Nr.], verheiratet, weilte am 19.1.1973 mit seinem Kraftfahrer [Name] in Berlin, um an einer Beratung bei der Abteilung Wissenschaften beim ZK der SED teilzunehmen.

Nach dieser Beratung besuchten Lentzsch und [Name] die Familie Redlin, Heinz-Georg2 geboren am [Tag, Monat] 1925, wohnhaft Berlin-Karlshorst, [Straße, Nr.], Direktor des Rechenzentrums der Deutschen Reichsbahn Berlin, Mitglied der SED.

Der Besuch bei der Familie Redlin wurde insbesondere dazu benutzt, um Erinnerungen an den gemeinsamen Besuch der Parteihochschule 1955 auszutauschen. Gleichzeitig wurden alkoholische Getränke genossen.

Gegen 23.00 Uhr begaben sich Lentzsch, sein Kraftfahrer und die erwachsenen Familienmitglieder der Familie Redlin schlafen, wobei dem Genossen Lentzsch das einbettige Kinderzimmer in der im zweiten Stock des Hauses liegenden Wohnung als Übernachtungsstelle zugewiesen wurde. Dort wurde er von Frau Redlin letztmalig gegen 23.05 Uhr im Bett liegend gesehen.

In der Zeit zwischen 23.30 Uhr und 0.30 Uhr, (Nacht vom Freitag zum Sonnabend) hörte eine Hausbewohnerin auf der Hofseite des Hauses [Straße, Nr.], einen dumpfen Aufschlag, machte aber infolge der Dunkelheit keine weiteren Wahrnehmungen.

Am Sonnabend, dem 20.1.1973, gegen 7.45 Uhr, wurde der Genosse Lentzsch auf dem Hof des Hauses [Straße, Nr.], durch Hausbewohner tot aufgefunden. Er lag bekleidet mit Unterhemd und Unterhose in Rückenlage 1,50 m von der Hauswand entfernt. Im Kopfbereich zeigten sich Blutabrinnspuren aus Nase und Ohren. Auf der dem Genossen Lentzsch gehörenden Armbanduhr standen die Zeiger auf 12.02 Uhr.

Die gerichtliche Obduktion der Leiche durch das Institut für Gerichtliche Medizin Berlin ergab als Todesursache eine Schädel- und Rückgratfraktur sowie weitere multiple Brüche der Rippen, des Beckens, des Schlüsselbeins und des rechten Schulterblattes infolge Sturz aus der Höhe.

Verletzungen, die in ein derartiges Geschehen nicht eingeordnet werden konnten, insbesondere äußere Gewalteinwirkung durch fremde Hand, wurden nicht festgestellt.

Im Blut wurde eine Alkoholkonzentration von 2,0 ‰ nachgewiesen.

Genosse Lentzsch befand sich somit zum Zeitpunkt des Todeseintrittes unter erheblicher Alkoholbeeinflussung.

Der gesamte objektive Befund an der Leiche, am Auffindungsort, im Übernachtungszimmer sowie Bekundungen der Zeugen beweisen, dass Lentzsch gegen Mitternacht das Bett verließ, über einen vor dem Fenster stehenden Schreibtisch stieg, das nach innen zu öffnende Fenster öffnete und sich sieben Meter tief fallen ließ.

Ein in seiner Brieftasche vorgefundener handschriftlicher Abschiedsbrief, der kein Datum trägt, beweist inhaltlich, dass sich Genosse Lentzsch mit Selbsttötungsabsichten trug, ohne jedoch motivische Anhaltspunkte dafür anzuführen.

Nach Angaben seines behandelnden Arztes litt Genosse Lentzsch seit Jahren an einer ständigen Überforderungssymptomatik bei neurasthenischem Syndrom und klagte ohne organische Ursache über Herzbeschwerden, Kopfschmerzen, nachlassendes Leistungsvermögen und Konzentrationsschwäche.

Seine Familienangehörigen bekunden, dass er nach genossenem Alkohol oftmals eine innere Unruhe zeigte.

Genosse Lentzsch leistete in seiner Funktion als Parteisekretär der Ingenieurhochschule eine zufriedenstellende Arbeit. Ihm war bekannt, dass er für die nächste Wahlperiode wieder als Parteisekretär vorgesehen war.

Nach Einschätzung aller vorliegenden Hinweise zum Persönlichkeitsbild ist das Motiv für die Selbsttötung des Genossen Lentzsch in der labilen Persönlichkeit, der vom Arzt diagnostizierten ständigen Überforderungssymptomatik und der Wirkung der nicht unwesentlichen Menge des genossenen Alkohols am 19.1.1973 zu suchen.

Aktuelle Konflikte in der Familie und auf der Arbeitsstelle waren nicht vorhanden. Anhaltspunkte für eine eventuelle gegnerische Beeinflussung gibt es nicht.

Die Todesermittlungssache wird durch das PDVP Berlin abgeschlossen.

  1. Zum nächsten Dokument Schusswaffenanwendung eines NVA-Sicherungspostens

    16. Februar 1973
    Information Nr. 156/73 über die Schusswaffenanwendung eines NVA-Sicherungspostens gegenüber bulgarischen Staatsangehörigen an der Autobahnbrücke Bademeusel, Kreis Forst (Staatsgrenze der DDR zur VR Polen)

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    16. Februar 1973
    Information Nr. 144/73 über die Festnahme von zwei Westberliner Jugendlichen auf dem Nord-Süd-Bahnsteig des S-Bahnhofes Berlin-Friedrichstraße am 12. Februar 1973