Tagung der Konferenz der Kirchenleitungen in Bad Saarow
6. März 1973
Information Nr. 194/73 über die Tagung der Konferenz der Kirchenleitungen am 12. und 13. Januar 1973 in Bad Saarow
Dem MfS wurde bekannt, dass am 12. und 13.1.1973 in Bad Saarow eine streng interne Konferenz der Kirchenleitungen der evangelischen Kirchen der DDR1 stattfand. Nach Äußerungen von Teilnehmern war Bad Saarow deshalb als Tagungsort gewählt worden, um den internen Charakter der Zusammenkunft zu unterstreichen und zu gewährleisten, dass niemand von den Teilnehmern vorzeitig die Tagung verlässt.
Anwesend waren alle Bischöfe sowie je ein Vertreter der evangelischen Landeskirchen der DDR.2
Im Mittelpunkt der Tagung stand das sogenannte Profilpapier über »Zeugnis und Dienst der evangelischen Kirche und Christen in der sozialistischen Gesellschaft der DDR«, das von der Kommission des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR »Kirche und Gesellschaft«3 in zweijährigen Beratungen erarbeitet wurde.4
Die Mitglieder dieser Kommission waren zur Begründung des Papiers zu der Tagung in Bad Saarow eingeladen. Als Wortführer der Kommission »Kirche und Gesellschaft« trat während der Tagung der Vorsitzende dieser Kommission, Studieninspektor Günter Krusche,5 Lückendorf, auf, der gleichzeitig als Initiator und maßgeblicher Verfasser des sogenannten Profilpapiers gilt.
Den Teilnehmern der Konferenz der Kirchenleitungen in Bad Saarow lag das »Profilpapier« in mehreren Exemplaren zur Einsichtnahme während der Tagung vor.
Bei dem Dokument handelt es sich um eine Situationsanalyse, die wie folgt eingeleitet wird:6
»Der Dienst des Bundes der Evangelischen Kirchen7 hat seinen Ort und sein Bewährungsfeld im Bereich der sozialistischen Gesellschaft der DDR« (Synode des Bundes Juli 19718). Zeugnis und Dienst der Kirche Jesu Christi können nur so Gestalt gewinnen, dass sie als Antwort auf die Herausforderung der jeweils gegebenen geschichtlichen und gesellschaftlichen Situation vom Evangelium her entdeckt und erkannt werden.
Die Situationsanalyse ist in drei Teile gegliedert.
In Teil I »Situation als Herausforderung« wird festgestellt, dass »Theologie und Verkündigung für die sozialistische Gesellschaft nicht sozialistische Theologie und Verkündigung« werden könnten. Sie würden zwar Themen aufgreifen, die auf der Tagesordnung dieser Gesellschaft stünden, aber so etwas wie einen »religiösen Überbau« für diese Gesellschaft könnten sie nicht liefern.
Es werden dann sieben Merkmale der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der DDR angeführt, die die Christen zu einer Antwort herausfordern würden:
1. Leistungsforderung
Es wird erklärt, dass das Leistungsprinzip die industrielle und landwirtschaftliche Produktion, die Forschung und die Volksbildung seit Bestehen der DDR bestimme.
Unter ständiger Entwicklung neuer Wettbewerbsformen werde ein immer höherer Leistungsgrad auf fast allen Gebieten der Volkswirtschaft erreicht. »Das Leistungsprinzip gründet jedoch nicht nur in den ökonomischen Notwendigkeiten eines vom Krieg zerstörten Landes und dem machtpolitischen Zwang eines jungen vorwärtsstrebenden Staates. Es gründet tiefer und zwar weltanschaulich darin, dass die Arbeit die Fundamentalkategorie marxistischer Anthropologie ist. Politisch-ideologisch wird die wissenschaftlich-technische Revolution als Teil der sozialistischen gesellschaftlichen Revolution verstanden und interpretiert.« Wissenschaftlich-technischer Fortschritt diene als Waffe ersten Ranges im internationalen Klassenkampf; daher gelte jeder Produktionserfolg als Pluspunkt und als erstrangiges Politikum. Praktisch-ökonomische, weltanschauliche und ideologisch-politische Motive würden das Leistungsprinzip untermauern und es beherrschend machen.
Die Christen seien herausgefordert, vom Evangelium her ihre Stellung im Arbeitsprozess im Hinblick auf die Gesamtgesellschaft, das Kollektiv und den Einzelnen, insbesondere den Leistungsschwachen, zu klären.
2. Wachsendes Konsum- und Freizeitbedürfnis
Die ständige Erhöhung des Lebensniveaus gelte in der DDR als Maxime staatlicher und wirtschaftlicher Bemühungen. Die Früchte gemeinsamer Anstrengungen würden von allen genutzt. Für die Christen stehe jedoch die Frage, ob der Sinn des Lebens allein in der Erhöhung des Lebensstandards liegen könne.
3. Einheitsgesellschaft unter zentralistischem Führungsanspruch der SED
»Eines der Hauptprobleme unserer Gesellschaft liegt darin, dass sich das Konzept der Einheitsgesellschaft in der DDR in einer Gesellschaft durchsetzen muss, in der faktisch aufgrund der geschichtlichen Entwicklung seit der Aufklärung eine Pluralität von Meinungen, Weltauffassungen und Interessen besteht. Die gesellschaftliche Pluralität ist bei uns eine unbewältigte Realität. Bis zum VIII. Parteitag der SED9 galt zur Kennzeichnung unserer Gesellschaft die Formel von der »sozialistischen Menschengemeinschaft«.10 Dieser Begriff ist aufgehoben worden, weil er die tatsächlich noch vorhandenen Klassenunterschiede in unserer Gesellschaft verwischt und den Führungsanspruch der SED nicht genügend zum Ausdruck bringt. Die Wiederentdeckung des Klassencharakters unserer Gesellschaft zeigt eine gewisse Ambivalenz der innerparteilichen Diskussion.
Als Christen müssen wir uns dem richtigen und notwendigen Anliegen stellen, das in dem Konzept der sozialistischen Einheitsgesellschaft enthalten ist: die pluralen Gruppen, Meinungen und Interessen der Gesellschaft zur Wahrnehmung der gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft von Mensch und Gesellschaft zusammenzubringen; die verschiedenen Sach- und Lebensbereiche der Gesellschaft so zur Einheit zu integrieren, dass sie sich nicht mehr entfremdet zueinander verhalten und der Mensch in den verschiedenen sozialen Rollen nicht seine Identität verliert.«
4. Monopolisierung der Information
»In den immer differenzierter, komplizierter und unübersichtlicher werdenden modernen gesellschaftlichen Zusammenhängen bedeutet Besitz von Information Macht, Kompetenz und Entscheidungsfähigkeit. Einseitige, begrenzte, tendenziös gefilterte Information bedeutet jedoch Abhängigkeit, Inkompetenz, Entscheidungsunfähigkeit und Machtlosigkeit. Die Verwirklichung von Demokratie ist weitgehend ein Informationsproblem geworden. Herrschende und Beherrschte unterscheiden sich heute nicht mehr vornehmlich durch Besitz oder Nichtbesitz von Produktionsmitteln, sondern durch Besitz oder Nichtbesitz herrschafts- und planungswichtiger Information. Auch die sozialistische Einheitsgesellschaft wird aufrechterhalten, indem der volle Zugang zu gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch relevanten Informationen einer kleinen Führungsschicht vorbehalten wird. Die große Menge der Bürger ist auf Informationen aus zweiter Hand und zudem auf gesiebte, bereits interpretierte Informationen angewiesen. Oder aber sie verfällt unkritisch der Wertung der DDR aus westlichen Massenmedien.
Die Frage ist dringlich, wie die Kirche die politische Bedeutung von Information bewusst machen kann und welche Möglichkeiten sie hat, in Gemeinde und Gesellschaft durch Information zur besseren Urteilsfähigkeit zu helfen.«
5. Trend zur Erziehungsgesellschaft
»Das einheitliche sozialistische Bildungssystem ist der Haupthebel zur Verwirklichung der Einheitsgesellschaft. Zu ihr muss erzogen werden, vom Kindergarten bis zu den Massenorganisationen und sozialistischen Brigaden. Darum allenthalben das pädagogische Pathos: Wir müssen die Menschen erziehen. Darum werden Phänomene von Pluralität im Bildungswesen am wenigsten geduldet. Die antireligiöse Propaganda in den Schulen ist ein Beispiel dafür …
… die mögliche Zusammenarbeit zwischen Christen und Marxisten in der Gesellschaft wird dadurch belastet. Der gegenwärtig praktizierte Grundsatz, die Erweiterte Oberschule und das Hoch- und Fachschulstudium vornehmlich als Ausbildungsstätte sozialistischer Führungskader anzusehen, verschärft diese Tendenz.
Für viele christliche Familien sind die Herausforderungen auf dem Bildungssektor nicht zu bewältigen. Anfechtungen und Schwierigkeiten, aber auch aufrechtes Bekennen und unverhoffte Möglichkeiten kennzeichnen seit Jahren die Lage. Die Härte einzelner Konfrontationen wie auch das Versagen vieler christlicher Familien sind nicht zu übersehen. Seelsorgerliche Begleitung ist hier mehr als anderswo nötig …«
6. Forderung von Parteilichkeit im Klassenkampf
»Aufgrund der immer wieder vorgetragenen Ansprüche an den Bürger in den verschiedensten Lebensbereichen wird jeder ständig gefragt und muss Antwort geben. Entscheidungslosigkeit ist fast unmöglich. Die Möglichkeit der Enthaltung ist selten. Es steht zwar dem Einzelnen frei, die gewünschte Entscheidung zu verweigern, er muss jedoch mit Benachteiligung rechnen … Sicherheit, in der christlichen Begründung gesellschaftlicher Entscheidungen wirklich verstanden zu werden, gibt es allerdings nicht. Für den Christen bedeutet gesellschaftliche Mitarbeit immer ein Risiko …
Christen und Kirche sind herausgefordert zu prüfen, welches der positive Sinn der Forderung von Parteilichkeit ist und wie er sich mit dem Eintreten für entrechtete Menschen und Klassen von der Versöhnung her verbindet …«
7. Trennung von Staat und Kirche
»Die Trennung von Staat und Kirche gehört zu den erklärten Grundsätzen sozialistischer Kirchenpolitik, auch wenn dies in der jetzt geltenden Verfassung der DDR nicht mehr ausdrücklich festgehalten ist …11 Im Bereich sozialistischer Kirchenpolitik wird dieses Prinzip aber zur Durchsetzung des ideologischen Führungsanspruchs und zur Verdrängung der Institution Kirche aus dem öffentlichen Bereich eingesetzt …
Hier besteht die Herausforderung zuerst in einer Anfrage an uns selbst: Hat die Kirche sich nicht selbst aus dem gesellschaftlichen Kräftespiel zurückgezogen? Ist nicht die Entkirchlichung als geschichtliche Bewegung auch Antwort auf die einseitige Parteinahme der Kirche für das Bestehende und gegen die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft gewesen? Darüber hinaus ist die Kirche herausgefordert, gegenüber der Rolle, die die Gesellschaft von ihr erwartet, ihren eigenen Auftrag klar herauszuarbeiten und festzuhalten.«
Der II. Teil »Die Begründung für Zeugnis und Dienst« enthält u. a. die Feststellung, dass Christen nicht nur in der Freizeit als Christen leben sollten, während sie sich in ihrer Arbeitsstelle meist nicht als solche zu erkennen geben.
Die Sendung der Kirche umfasse das Ganze: Zeugnis und Dienst. Das Zeugnis von der Versöhnung des Menschen ermutige zur Mitarbeit in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft. Darüber hinaus müsse man die evangelische Gemeinde als eine »Beistandsgemeinschaft« betrachten, denn in ihr herrsche kein Leistungsdruck, in ihr sei Gemeinschaft realisierbar, die nicht sach- und leistungsbezogen sei, sondern ihren eigenen Wert habe. Die Kirche sei das Organ, in dem die Motivationen der Christen für Zeugnis und Dienst verantwortlich reflektiert würden.
Im Weiteren wird eine »Auswahl von Verhaltensweisen in bestimmten Situationen« zusammengestellt zu einem Katalog, der Hilfe sein soll, »vorhersehbare Herausforderungen rechtzeitig zu bedenken und gegebenenfalls in der Gemeinde zu erörtern und zu beraten«, zum Beispiel
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für Jugendliche: Berufswahl, vormilitärische Ausbildung, Wehrdienst;
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für die Elterngeneration: Zurüstung und Hilfe für das Kind in Gestalt von Rat, Vorbild, Tröstung, Verteidigung, Vermittlung von Normen, Tolerierung Andersdenkender, Beratung in Entscheidungssituationen (Pionier,12 FDJ, Jugendweihe13), Elternaktiv, Elternbeirat, Hilfe bei der Berufswahl;
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ohne direkten Bezug auf das Lebensalter: Verhalten im Arbeitskollektiv; Mitglied in Parteien, Massenorganisationen, Kampfgruppen;14 Zivilverteidigung; Solidaritätsaktionen; erbetene und nicht erbetene Stellungnahmen zu Ereignissen und gesellschaftlichen Vorhaben.
Der III. Teil »Exemplarische Felder der Konkretion« ist unterteilt in
Arbeit und Freizeit
Hier wird wieder Bezug genommen auf die im Teil I genannten »sieben Merkmale der sozialistischen Gesellschaft«.
Es wird festgestellt: »Werden Arbeit und Leistung zu den Höchstwerten, so kommt es zu einer Unterschätzung nicht zweckrational, sondern personal orientierter mitmenschlicher Beziehungen sowie der Bedeutung von Freizeit und Muße. Nach der sozialistischen Gesellschaftslehre empfangen Ehe, Familienleben und der ganze Privat- und Freizeitraum ihren Gehalt und ihre Sinnerfüllung von der Gesellschaft her …
Dem gegenüber ist die Eigenbedeutung des Privat- und Freizeitraumes für das Menschsein des Menschen geltend zu machen. Die Wohltat des Sabbat, des biblischen Ruhetages für den Menschen, ist in ihrer aktuellen Bedeutung wiederzuentdecken …
Das Angebot an Freizeit in unserer Gesellschaft ist gestiegen, jedoch besteht eine weitverbreitete Hilflosigkeit, sie recht zu nutzen. Freizeit wird für zusätzliche Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten genutzt, um die eigenen Konsumchancen zu erhöhen, oder auch um der Langeweile zu entgehen, da man mit sich selbst und mit den Mitmenschen nichts anzufangen weiß …
Leistungsdruck und Lebensstandard stehen in einem Zusammenhang. Wir handeln letztlich in einem offenen Widerspruch, wenn wir unsere Selbstentfremdung durch Arbeit beklagen, gleichzeitig aber alles tun, die Bedingungen der Selbstentfremdung durch Steigerung der Konsum- und Leistungsansprüche zu verschärfen …«
Gelingende Pluralität
Es wird festgestellt, die Pluralität, die die christliche Gemeinde in der Gesellschaft vorfinde, sei nicht nur Last, sondern biete auch die Chance, »die Botschaft von der Versöhnung zu leben«.
Parteilichkeit und Klassenkampf
Die Christen seien mit der Forderung konfrontiert, im Klassenkampf Partei zu ergreifen. Sie sollten ausgehen vom »biblischen Erwählungszeugnis«, nach dem »Gottes erwählende Liebe Partei ergreift für das geknechtete Israel gegen Pharao, für die Witwen und Waisen, gegen Ausbeuter und Rechtsbrecher«. Er stoße die »Gewaltigen« vom Stuhl und erhöhe die Niedrigen. Jesus ergreife Partei für die religiös und gesellschaftlich Deklassierten. Parteinahme im Namen Jesu heiße Eintreten für die heute Leidenden und Unterdrückten und also für konkrete politische Entscheidungen zu ihren Gunsten. Diese Intention könne sich mit dem ursprünglichen Ansatz des sozialistischen Humanismus verbinden. In der Taktik und Praxis des Klassenkampfes drohe diese universale Orientierung jedoch verlorenzugehen.
Nach Eröffnung der Tagung der Konferenz der Kirchenleitungen gab der Vorsitzende der Kommission »Kirche und Gesellschaft«, Studieninspektor Krusche,15 eine Einführung zu dem Profilpapier und teilte mit, dass es von der Aussprache mit der Konferenz der Kirchenleitungen abhinge, ob die Kommission in der bisherigen Form weiterarbeiten soll.
Gleichzeitig unterbreitete er den Vorschlag, das »Profilpapier« in der vorliegenden Form allen Gemeinden als Diskussionsgrundlage zur Verfügung zu stellen.
In einer anschließenden lebhaften Diskussion zur inhaltlichen Gestaltung und weiteren Verwendung dieser Situationsanalyse wurden die verschiedensten Meinungen vertreten.
Interessant waren dabei u. a. folgende Diskussionsbeiträge.
Zustimmend zur vorgelegten Ausarbeitung äußerten sich insbesondere folgende Teilnehmer:
Bischof Krusche,16 Magdeburg, hält das vorliegende Dokument für eine »klärende Orientierung«.
Kirchenpräsident Natho,17 Dessau, meinte, man solle sich nicht an Einzelheiten festhalten, sondern das Ganze beurteilen. Grundsätzlich handele es sich um ein »gutes Dokument«.
Bischof Fränkel,18 Görlitz, vertrat die Meinung, dass in dem Papier die Situation »richtig herausanalysiert« worden sei. Die politische Relevanz der Versöhnungsbereitschaft sei richtig reflektiert worden.
Pfarrer Hartmut Grüber,19 Hohenbruch, stimmte dem Dokument zu und forderte für die Weitergabe der Situationsanalyse ein ausführliches, kommentierendes Vorwort. (Der Vorschlag eines Vorwortes wurde sofort abgelehnt mit der Feststellung, dass sich jeder nur auf das Hauptpapier orientieren werde.)
Bischof Hempel,20 Dresden war mit der inhaltlichen Gestaltung einverstanden und erklärte, dass man dem Vorschlag, das Papier den Gemeinden zur Verfügung zu stellen, unbedingt zustimmen könne. Die Frage bestünde darin, ob damit nicht zu viel gefordert werde. Nach seiner Meinung enthalte es zu viel »überhebliches Dozententum« und einen ausgesprochenen Gouvernantenton.
Vorbehalte wurden besonders von folgenden Teilnehmern zum Ausdruck gebracht:
Bischof Braecklein,21 Eisenach, nahm darauf Bezug, dass die Situationsanalyse zwar eine wichtige, aber doch sehr einseitige Studie sei. Für ihn liege die Schwierigkeit im theologischen Ansatz des Papiers, und zwar liege eine Verkürzung des theologischen Ansatzes vor. Die »Zwei-Reiche-Lehre«22 Luthers23 sei nicht beachtet worden und man habe bei der Argumentation die Kategorien Sünde und Vergebung unberücksichtigt gelassen. Was übrigbliebe, sei nicht zufriedenstellend.
Bau-Ingenieur Teichmann,24 Karl-Marx-Stadt (Mitglied der Synode des Bundes und der Konferenz der Kirchenleitungen), erklärte, dass das Papier nicht prinzipiell genug sei. Er habe Bedenken wegen einiger spezieller Aussagen.
Pfarrer Kramer,25 Magdeburg, brachte zum Ausdruck, dass der Bezug auf die bürgerliche Vergangenheit und das Gegenüber zur BRD fehle. Er verlange zwar keine Abgrenzung zur BRD, es fehle jedoch die Reflexion dieses Problems.
Bischof Rathke,26 Schwerin, erhob die Forderung, dass das Papier noch einmal kritisch durchgesehen wird und »konvergenz-theorieverdächtige Vokabeln« ausgemerzt werden.
(Studieninspektor Krusche, Lückendorf, erklärte daraufhin erregt, dass der Ausschuss »Kirche und Gesellschaft« es ablehne, das Papier, an dem über zwei Jahre gearbeitet worden sei, nochmals zu überarbeiten. Entweder werde es jetzt akzeptiert oder verworfen.)
Oberkirchenrat Dr. Lotz,27 Eisenach, erklärte, dass er dieses Papier nicht als theologische Arbeit beurteilen und einordnen könne. Es mache auf ihn den Eindruck eines ideologischen Grundsatzprogramms einer Oppositionspartei. Das in der Situationsanalyse gezeichnete Bild der DDR sei falsch.
Man müsse z. B. bei dem Absatz »Leistungsgesellschaft« fragen, ob hier nun eigentlich die Konkurrenzgesellschaft der BRD gemeint sei. Außerdem sei die Auswahl der sogenannten Merkmale der sozialistischen Gesellschaft völlig einseitig. Es sei eigenartig, dass nur solche Punkte in der Situationsanalyse erwähnt werden, bei denen es Schwierigkeiten mit der Kirche gegeben habe. Es sei aber z. B. nicht gesagt worden, dass das Gemeindeglied, wenn es eine Prämie bekommt oder befördert wird, in eine Situation komme, die unter christlichen Gesichtspunkten zu reflektieren sei. Im Übrigen nehme sich die Kirche hier zu viel vor, z. B. wenn verlangt wird, dass die Informationen in der DDR durch die Kirche verbessert werden sollen. Er müsse fragen, ob die Kirche vielleicht eine Zeitschrift wie den »Spiegel«28 herausgeben wolle. Das vorliegende Profilpapier müsse er kategorisch ablehnen.
Studieninspektor Krusche stellte als Vorsitzender des Ausschusses »Kirche und Gesellschaft« danach die Frage, wie nun weiter verfahren werden solle. Er kritisierte gleichzeitig die Konferenz der Kirchenleitungen, weil er von dort keine konkrete Anleitung erhalten habe.
Bischof Fränkel erklärte, dass aufgrund der Aussprache eine Weiterarbeit an dem Papier und den vorgetragenen Gedankengängen notwendig sei. (In einem internen Gespräch äußerte Fränkel, dass er die Argumentation von Oberkirchenrat Dr. Lotz für sehr gut halte. Wenn er selbst Volkskammerabgeordneter wäre, würde er gleiche Schlussfolgerungen ziehen. Aber da er kein Volkskammerabgeordneter, sondern Bischof sei, müsse er gegen Lotz stimmen.)
Nach dieser Diskussion wurde mit Stimmenmehrheit beschlossen, diese Situationsanalyse im Sekretariat des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR zu deponieren bzw. dort für »interessierte Gesprächsgruppen« bereitzuhalten. Das Material soll als intern behandelt werden.
Gegen das Papier gab es acht Stimmen, darunter die Bischöfe Schönherr,29 Braecklein und Gienke30 sowie die Oberkirchenräte Dr. Lotz, Eisenach, und Zilz,31 Jena.
In der nachfolgenden Diskussion zu den Tagesordnungspunkten »Berichte aus den Kirchen« und »Aus der Tätigkeit des Sekretariats« gab es einige bemerkenswerte Äußerungen, die im Folgenden sinngemäß wiedergegeben werden.
So hob Pfarrer Kramer, Magdeburg, hervor, dass in der Kirchenprovinz Sachsen die Grundordnung geändert werden müsse. Zur Neuformierung der Kirchenkreise müsse eine sinnvolle Grenzregulierung mit den Nachbarkirchen erreicht werden.32
Bischof Rathke, Schwerin, befasste sich u. a. mit Problemen der Veranstaltungsverordnung. Er hob hervor, dass die BdVP ihm schriftlich mitgeteilt habe, es sei nicht Sache der Kirche zu bestimmen, was religiöse Handlungen sind und was nicht.33
Er berichtete über angeblich vom Staatsapparat ausgesprochene Strafen bei Konfirmandenrüsten, Kurendenrüsten34 und »Gottesdienst einmal anders«35.
Bischof Hempel, Dresden, berichtete über »besondere Erschwernisse« bei der Christenlehre, die z. T. hervorgerufen worden seien durch eine massive Beeinflussung der Eltern seitens der Lehrer. Dadurch sei ein Rückgang in der Teilnahme an der Christenlehre um 50 % eingetreten.
Bischof Fränkel, Görlitz, hob hervor, dass es Schwierigkeiten beim Abschluss von Lehrverträgen gegeben habe bei solchen Jugendlichen, die nicht an der vormilitärischen Ausbildung teilnehmen wollen und die sich bereits als Kriegsdienstverweigerer erklärt haben.36
Der Referent für Presse und Publikationswesen beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR, Lutz Borgmann,37 Potsdam, berichtete als Vertreter der Arbeitsgruppe »Information«. Er wies darauf hin, dass nach der Ratifikation des Grundvertrages38 viele Journalisten aus der BRD in der DDR akkreditiert würden. Es sei zu erwarten, dass diese in der DDR herumreisen, Material sammeln und viele Pfarrer befragen würden. Die Arbeitsgruppe »Information« habe deshalb beschlossen, eine Handreichung darüber zu erarbeiten, wie Pfarrer und andere kirchliche Mitarbeiter solchen Journalisten begegnen sollen.
Oberkirchenrat Pabst,39 Berlin, machte Ausführungen zum Besuchsprogramm des Bundes für 1973. Dabei erwähnte er insbesondere den bevorstehenden Besuch einer Delegation der Russisch-Orthodoxen Kirche in der DDR im ersten Halbjahr 1973.40
Zur Vorbereitung dieses Besuches seien zwei Arbeitskreise gebildet worden, die sich mit inhaltlichen und organisatorischen Problemen dieses Besuches beschäftigen sollen. Weiterhin sei in Vorbereitung eine Gegeneinladung der Protestantischen Kirche in Frankreich41 und der Vereinigten Kirche Christi der USA42 im zweiten Halbjahr 1973.
Oberkirchenrat Behm,43 Berlin, berichtete über ein »Papier zu Problemen der Neustrukturierung bzw. Reform der theologischen Lehranstalten«.44 Es solle eine Art Promotionsordnung ausgearbeitet werden, um den Absolventen dieser Lehranstalten so etwas wie eine wissenschaftliche Laufbahn zu sichern.45
In diesem Zusammenhang ist wieder an die Einführung solcher Titel wie Licentiat und Magister gedacht.
Beim während der Tagung verlesenen Bericht des Sekretariats des Bundes stand u. a. die Veranstaltungsverordnung im Mittelpunkt. Dabei wurde festgestellt, dass die staatliche Haltung unverändert sei. Es sei auch kein eventueller »Kurswechsel« abzusehen. Es wurde festgelegt, es auch bei den Winterferien bei der Weisung, Bibelrüsten für Jugendliche nicht anzumelden, zu belassen.
Gegen diese Festlegung trat Oberkirchenrat Dr. Lotz auf.
Weiter wurde mitgeteilt, dass zur bevorstehenden Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR im Mai 1973 in Schwerin46 Vertreter folgender Gremien eingeladen werden sollen:
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Ökumenischer Rat der Kirchen, Genf47
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Konferenz Europäischer Kirchen, Genf48
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die evangelischen Kirchen der BRD
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der Ökumenische Rat der ČSSR49
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der protestantische Rat Frankreichs50
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der Präsident des Nordisch-deutschen Kirchenkonvents51
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der Exarch der Russisch-Orthodoxen Kirche
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die Arbeitsgemeinschaft »Christliche Kirchen« in der DDR52
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die Römisch-katholische Kirche
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der Staatssekretär für Kirchenfragen
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der Rat des Bezirks Schwerin.
Die Tagesordnung für die Synode bestehe zurzeit erst in Umrissen. Es sei vorgesehen, dass ausschließlich zur Arbeit in den zurückliegenden vier Jahren Stellung genommen wird.
Bisher seien folgende Festlegungen dazu getroffen:
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Der in Dresden gebildete Sonderausschuss soll einen Überblick über die Zweckmäßigkeit der Arbeitsweise der Synode des Bundes und einen Sachstandsbericht über die Arbeit der Ausschüsse geben.
Weiter sollen
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der Ausbildungsausschuss,
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der Ausschuss für theologische Studienarbeit,
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der Ausschuss für ökumenisch-missionarische Arbeit zu Wort kommen.
Auf der Synode sollten dann folgende Tagungsausschüsse gebildet werden:
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Berichtsausschuss,
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Ausschuss für die Arbeit der Kommissionen,
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Ausschuss zum Verhältnis der Synode zur Konferenz der Kirchenleitungen,
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Ausschuss zur Analyse der Arbeitsweise der Synode.
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