Tunnelflucht nach Westberlin
28. Juli 1973
Information Nr. 720/73 über einen schweren Grenzdurchbruch an der Staatsgrenze der DDR zu Westberlin mittels eines Tunnels
Am 26.7.1973, gegen 15.00 Uhr, wurde von dem zuständigen ABV1 sowie einem Angehörigen der NVA/Grenztruppen festgestellt, dass auf dem Wohngrundstück Potsdam, Klein-Glienicke, Waldmüllerstraße 1, vom Keller aus ein Tunnel nach Westberlin ca. 1,80 bis 2,00 m unter der Erde gegraben worden war (Länge: 19 m, Höhe: 0,60 m, Breite: 0,70 m).
Der Tunnel endet ca. 0,80 m hinter der Sperrmauer. Der Ausstieg wurde abgedeckt und mit Erdreich versehen.
Das Grundstück Waldmüllerstraße 1 befindet sich ca. 18 m von der Sperrmauer entfernt. Zwischen Grundstück und Sperrmauer liegt der Hinterlandsicherungszaun in einer Entfernung von ca. 7,50 m vom Haus.
Die Feststellung erfolgte nach Hinweisen aus der Bevölkerung über eine nicht verschlossene Wohnung.
Nach den bisherigen Ermittlungen besteht der begründete Verdacht, dass der Tunnel von den Bewohnern dieses Hauses Dr. Wolter, Dietrich,2 geboren [Tag, Monat] 1930, Beruf Diplom-Chemiker, Arbeitsstelle Blutspendeinstitut Potsdam, dessen Ehefrau Wolter, geborene [Name 1, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1930 und den Kindern [Vorname 1], geboren am [Tag, Monat] 1959 und [Vorname 2], geboren am [Tag, Monat] 1964 zum Grenzdurchbruch nach Westberlin benutzt wurde.
Des Weiteren besteht der begründete Verdacht, dass durch diesen Tunnel gleichfalls die Personen [Name 2, Vorname 1] (Bruder des Dr. W.) geboren am [Tag, Monat] 1936, wohnhaft Erfurt, [Straße, Nr.], Beruf Diplomingenieur, Arbeitsstelle VEB Optima Erfurt, dessen Ehefrau [Name 2], geborene [Name 3, Vorname 2], geboren am [Tag, Monat] 1939 und die Kinder [Vorname 3], geboren [Tag, Monat] 1961, [Vorname 4], geboren [Tag, Monat] 1963 und [Vorname 5], geboren [Tag, Monat] 1966 die DDR nach Westberlin verließen.
Der Grenzdurchbruch erfolgte vermutlich in der Nacht vom 25.7. zum 26.7.1973. Dr. Wolter ist am 25.7.1973, gegen 21.00 Uhr, noch von einem Angehörigen der NVA-Grenztruppen gesehen worden.3
Von [Name 2, Vorname], ist bekannt, dass er für die Zeit vom 7.7. bis 17.7.1973 eine Besuchsgenehmigung für das Grenzgebiet hatte und während dieser Zeit mit seiner Familie seinen Bruder besuchte.
Am 16.7. bzw. 17.7.1973 erfolgte die getrennte Ausreise des Ehepaars mit Tochter aus dem Grenzgebiet, um sich – nach Äußerungen in der Öffentlichkeit – in Urlaub nach Kühlungsborn zu begeben.
Aufgrund einer Kontrolle des ABV wurde festgestellt, dass sich die beiden Kinder [Vorname 4] und [Vorname 5] am 23.7.1973 noch im Grenzgebiet aufhielten. Für sie wurde daraufhin die Besuchsgenehmigung bis zum 30.7.1973 verlängert.
Die bisherigen Überprüfungen zum Aufenthalt des [Name 2, Vorname], seiner Ehefrau und Tochter im Gebiet der DDR haben noch nicht zu einem Erfolg geführt.
Aufgrund der vorgenannten Umstände ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass [Name 2, Vorname], mit Ehefrau und Tochter nach ihrer »offiziellen Ausreise« aus dem Grenzgebiet unkontrolliert zurückgekehrt sind und gemeinsam mit der Familie des Dr. Wolter und ihren Kindern [Vorname 4] und [Vorname 5] die DDR ungesetzlich verlassen haben.
Die Sicherung der Staatsgrenze in diesem Abschnitt durch die NVA-Grenztruppen wurde seit dem 20.7.1973 durch zusätzliche Kräfte verstärkt. Auf Westberliner Seite konnten in dieser genannten Zeit keine besonderen Handlungen festgestellt werden.
Der gesamte Grenzabschnitt Klein Glienicke ist als tunnelgefährdeter Abschnitt gekennzeichnet.
Das Grundstück Waldmüllerstraße 1 selbst wurde in den dazu vorhandenen Kontrollplan der NVA-Grenztruppen nicht aufgenommen, weil das Anlegen eines Tunnels bei einem Grundwasserspiegel von 1,20 m für nicht möglich eingeschätzt wurde.
Die Untersuchungen des MfS zur umfassenden Aufklärung der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen sowie der Täterpersönlichkeiten werden im engen Zusammenwirken mit den Grenztruppen der NVA und der Deutschen Volkspolizei fortgeführt.