Ungesetzliche Ausreise durch Wirtschaftswissenschaftlerin
18. Mai 1973
Information Nr. 459/73 über das ungesetzliche Verlassen der DDR durch eine wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sektion Wirtschaftswissenschaften der Humboldt-Universität Berlin
Dem MfS liegen Hinweise vor, dass die [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1948, wohnhaft Wildau, [Straße. Nr.], beschäftigt als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sektion Wirtschaftswissenschaften der Humboldt-Universität Berlin, Kandidat der Kreisleitung der SED der Humboldt-Universität, zwischen dem 21. und 24.4.1973 die DDR auf bisher unbekanntem Wege ungesetzlich verlassen hat.
Die im Zusammenhang mit dem ungesetzlichen Verlassen der DDR vom MfS bisher geführten Untersuchungen ergaben, dass sich die [Name 1] seit längerer Zeit wegen Kreislaufstörungen und Gallenbeschwerden bei [Name 2], staatliche Arztpraxis Wildau, in Behandlung befand und seit dem 2.4.1973 krankgeschrieben war. Am 21.4.1973 verabschiedete sich die [Name 1] von ihrer Mutter, um die Osterfeiertage bei einer Freundin in Berlin zu verbringen.
Am 25.4.1973 erhielt die Mutter aus Westberlin einen Brief, worin die [Name 1] mitteilte, sich wohlbehalten bei einer Bekannten in Westberlin zu befinden. Der Brief enthält außer persönlichen Bemerkungen für die Mutter nichts, was auf die Gründe für ihre Handlungsweise hindeutet.
Wie weiter festgestellt wurde, unterhält die [Name 1] seit längerer Zeit ein intimes lesbisches Verhältnis zur französischen Staatsbürgerin [Name 3, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1946, wohnhaft Paris 7c, die im Jahre 1972 an einem zweimonatigen Hochschulkursus für Ausländer an der Humboldt-Universität teilnahm und zum Zwecke der Fertigstellung einer Diplomarbeit den Aufenthalt in der DDR mit Genehmigung des Ministeriums für das Hoch- und Fachschulwesen um weitere zwei Monate verlängert erhielt.
Die [Name 3] wohnte bis September 1972 im Internat der Humboldt-Universität in Berlin-Biesdorf und anschließend bis Ende 1972 bei der [Name 1] in Wildau.
Seit Anfang 1973 hält sich die [Name 3] wieder in Westberlin auf und übt eine bisher nicht bekannte Tätigkeit aus.
Wie die behandelnde Ärztin der [Name 1] auf Befragen angab, seien die Ursachen der Krankheitserscheinungen der [Name 1] in deren Psyche zu suchen.
Wie [Name 2] in diesem Zusammenhang weiter erklärte, habe sich die [Name 1] etwa seit Beginn des Jahres 1973 negativ über die DDR geäußert. Ihr ganzes Verhalten habe darauf hingedeutet, dass sie sowohl persönlich als auch beruflich Konflikte haben müsse, die sie offensichtlich nicht bewältigen konnte.
Auch [Name 2] bestätigt die starke sexuelle Abhängigkeit der [Name 1] von der [Name 3], die die [Name 1] im Laufe des Jahres 1973 ständig besuchte. Zwischen diesen Besuchen fand ein reger Briefwechsel statt.
Im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit an der Humboldt-Universität Berlin zeigte die [Name 1] sehr gute Leistungen und wurde daraufhin mehrfach prämiiert.
Innerhalb der Parteiorganisation der Humboldt-Universität galt die [Name 1] als aktive, parteiergebene und klassenbewusste Genossin.
Irgendwelche Hinweise, die auf ein beabsichtigtes ungesetzliches Verlassen der DDR hätten hindeuten können, lagen nicht vor.