Ungesetzlicher Grenzübertritt eines Hauptabteilungsleiters
28. Juni 1973
Information Nr. 570/73 über vermutlichen ungesetzlichen Grenzübertritt des Prof. Dr. rer. nat. habil. Karras vom Kombinat Robotron Dresden
Dem MfS wurde bekannt, dass der Prof. Dr. Karras, Hans1 geboren [Tag, Monat] 1930, wohnhaft Dresden, [Straße, Nr.], beschäftigt Kombinat Robotron Dresden, als HA-Leiter Grundlagenforschung im Zentrum für Forschung und Technik, [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben], Mitglied der SED, von einer am 9.6.1973 in die ČSSR angetretenen Reise nicht wie vorgesehen am 11.6.1973 zurückkehrte. Aufgrund der vorgefundenen Umstände liegt der Verdacht nahe, dass Karras die DDR über die ČSSR auf ungesetzlichem Wege verlassen hat.
Die vom MfS eingeleiteten Ermittlungen ergaben bisher Folgendes:
Prof. Dr. Karras wurde Ende Mai 1973 von seinen in der BRD lebenden Eltern auf postalischem Wege aufgefordert, sich in der Zeit vom 7. bis 11.6.1973 zwecks Klärung persönlicher Probleme und unbedingt allein mit seinen Eltern in der ČSSR zu treffen.
Als Ort des Zusammentreffens wurde später Mariánské Lázně/ČSSR vereinbart.
Prof. Dr. Karras reiste daraufhin am 9.6.1973 in die ČSSR, die Rückkehr sollte am 11.6.1973 erfolgen. Die nach seiner nicht erfolgten Rückkehr eingeleiteten Überprüfungen ergaben, dass er in der ČSSR nicht auffindbar ist.
In der Wohnung, die er noch mit [Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben] bewohnte, wurden zwei Briefe vorgefunden, die den Verdacht des ungesetzlichen Verlassens der DDR durch Karras erklärten. Einer enthielt den Betriebsausweis, den SVK-Ausweis, die Zimmerschlüssel und den Krankenschein (Prof. Karras war vom 29.5. bis 8.6.1973 krankgeschrieben); während der andere, an eine Rechtsanwältin Großer2 in Dresden gerichtete Brief, die Verfügung über den Verbleib seines vorhandenen persönlichen Besitzes beinhaltete.
Im Schreibtisch des Prof. Karras wurden das Parteidokument sowie die Mitgliedsbücher des FDGB, der DSF und der FDJ vorgefunden.
Nicht aufgefunden wurden alle Diplome, Berufungsurkunden und die Promotionsschrift.
Sowohl in der Wohnung als auch auf der Arbeitsstelle befanden sich alle Gegenstände und Unterlagen in einem geordneten Zustand.
Das Fehlen von Arbeitsunterlagen ist nach erster grober Übersicht bisher nicht festgestellt worden.
Zur Person von Prof. Dr. Karras erscheinen folgende Fakten bemerkenswert:
Prof. Dr. Karras war bis 1968 im VEB Carl Zeiss Jena als Abteilungsleiter in der HA Wissenschaftliche Grundlagenforschung (Festkörperphysik, Kristallzüchtung, Lasertechnik und optische Medien) und von 1968 bis 1970 als Dozent und Professor an der Universität Rostock tätig.
Im Verlaufe seiner Tätigkeit im Kombinat Robotron Dresden seit 1970 befasste er sich vorwiegend mit dem Forschungsthema »Supraleitende Grundlösungen«.
Dieses Forschungsthema soll jedoch auf Beschluss des Ministeriums für Elektrotechnik und Elektronik vom Kombinat Robotron an die Friedrich-Schiller-Universität Jena übergeben werden, da es für die Datenverarbeitung gegenwärtig keinen unmittelbaren Nutzen bringt.
Die bisher erreichten Forschungsergebnisse wurden an die UdSSR übergeben.
Mit dem Abbruch des Forschungsthemas im Kombinat Robotron war gleichzeitig eine Berufung des Prof. Dr. Karras an die Friedrich-Schiller-Universität Jena vorgesehen.
Prof. Dr. Karras hat in mehreren zu diesem Zweck durchgeführten Aussprachen geäußert, mit den vorgesehenen Maßnahmen nicht einverstanden zu sein. Er betrachte diese vielmehr »als eine Untergrabung seines Ansehens als profilierter Wissenschaftler«. Hinzu komme, dass er sich im Sektionsrat der Universität Jena »stets als Fremdkörper fühlen würde«. Letzteres wurde von Prof. Dr. Karras nicht näher begründet.
[Passage mit schutzwürdigen Informationen nicht wiedergegeben]
Prof. Dr. Karras wird allgemein als ehrgeiziger, korrekter, zum Teil pedantischer Wissenschaftler eingeschätzt. Als Mitarbeiter verschiedener wissenschaftlicher Gremien führte er Dienstreisen zu Fachtagungen in die BRD und nach England durch.
Prof. Dr. Karras wurde 1960 als Aktivist des Sieben-Jahrplanes und 1963 sowie 1964 im Kollektiv mit dem »Orden Banner der Arbeit« ausgezeichnet.
Er wird weiter als typischer »Nurwissenschaftler« charakterisiert, der trotz seiner Mitgliedschaft in der SED gesellschaftlich nicht in Erscheinung trat.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes wurden durch das MfS entsprechende Maßnahmen eingeleitet.