Ungesetzliches Verlassen der DDR durch Hochenergiephysiker
2. April 1973
Information Nr. 292/73 über das ungesetzliche Verlassen der DDR durch den [Vorname Name 1], wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Hochenergiephysik der Akademie der Wissenschaften der DDR
Dem Ministerium für Staatssicherheit wurde bekannt, dass der [Name 1, Vorname], geboren am [Tag, Monat, Jahr], beschäftigt gewesen im Institut für Hochenergiephysik der Akademie der Wissenschaften der DDR in Zeuthen, Parteisekretär der Grundorganisation der SED des Instituts, von einer Dienstreise in die BRD, die er am 26.2.1973 von Berlin, Bahnhof Friedrichstraße, aus mit einem weiteren wissenschaftlichen Mitarbeiter des gleichen Instituts planmäßig angetreten hatte, nicht zurückgekehrt ist.
[Name 1] sollte vom 26.2. bis 2.3.1973 an einer Arbeitsberatung am Physikalischen Institut der Technischen Hochschule Aachen teilnehmen.1
(Im Rahmen derartiger Beratungen wird auf der Grundlage vertraglicher Festlegungen zwischen dem sowjetischen Kernforschungszentrum Dubna, dem westeuropäischen Kernforschungszentrum CERN, Schweiz, der Technischen Hochschule Aachen und der Akademie der Wissenschaften der DDR regelmäßig über den Fortgang gemeinsamer Forschungsaufgaben beraten.)
[Name 1] ist nach Aussagen seines Reisebegleiters, [Name 2], am 26.2.1973 auf der Fahrt von Berlin nach Aachen in Hannover mit der Bemerkung ausgestiegen, noch etwas erledigen zu müssen und die Fahrt nach Aachen mit dem nächsten Zug in etwa drei Stunden fortzusetzen.
Seit diesem Zeitpunkt fehlt jeglicher Anhaltspunkt über den Aufenthalt des [Name 1], der sich auch bisher nirgendwo – nach vorliegenden Hinweisen auch bei seiner Frau nicht – meldete.
[Name 2] berichtet weiter, dass im Verlaufe der Arbeitsberatung in Aachen niemand vom Ausbleiben des [Name 1] Notiz nahm, obwohl er dort einen Vortrag halten sollte.
Die im Institut sowie mit der Ehefrau, [Name 1], geb. [Name 3, Vorname], geboren am [Tag, Monat, Jahr], beschäftigt als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentrum für Molekularbiologie in Berlin-Buch, geführten Aussprachen ergaben keinerlei Motivierung für eine Republikflucht des [Name 1], der als bestätigter Reisekader bereits in den Jahren 1971 und 1972 im Auftrage des Instituts für Hochenergiephysik je eine Dienstreise in die UdSSR, in die ČSSR und nach Österreich durchführte.
Die Ehefrau erklärt bisher, über die Absicht des [Name 1], die DDR ungesetzlich zu verlassen, nicht informiert gewesen zu sein. Durchgeführte Überprüfungen ergaben jedoch Anhaltspunkte, die den dringenden Verdacht zulassen, wonach dieser Schritt des [Name 1] vorbereitet war.
So äußerte er beispielsweise vor seiner Abreise, seine Reise eventuell in Köln oder Hannover unterbrechen zu wollen, um sich die Stadtarchitektur anzusehen.
Ebenfalls vor der Abreise hat er schlagartig alle ausgeliehenen Fachbücher zurückgegeben und einige Drucksachen vernichtet. In der Tasche des zurückgelassenen Anoraks fand die Ehefrau die Hausschlüssel sowie zwei ihrer Fotos, die sich bis zu diesem Zeitpunkt auf dem Schreibtisch ihres Mannes im Institut befunden hatten.
Alle persönlichen Unterlagen des [Name 1] wurden in einem sehr geordneten, offensichtlich vorbereiteten Zustand vorgefunden.
Auch die gemeinsam mit der Institutsleitung vorgenommene Überprüfung des Arbeitszimmers des [Name 1] ergab, dass alle Unterlagen – fachliche und mit seiner bisherigen Tätigkeit als Parteisekretär zusammenhängende parteiliche – in einem außerordentlich geordneten Zustand zurückgelassen wurden.
Einige wesentliche Angaben zur Person des [Name 1]:
[Name 1] entstammt einer Bauernfamilie, besuchte die Grund- und Oberschule, legte das Abitur ab und nahm, nachdem er den Beruf eines Betonfacharbeiters erlernt hatte, 1963 ein Physikstudium an der Humboldt-Universität Berlin auf, welches er im Juli 1968 mit dem Diplom abschloss.
Aufgrund sehr guter Arbeitsergebnisse promovierte er bereits 1971 am Institut für Hochenergiephysik Zeuthen, wohin er in Abstimmung mit der Parteileitung der Sektion Physik der Humboldt-Universität seit 1969 für ständig übergewechselt war.
Hier beschäftigte sich [Name 1] vorrangig mit der engen Verbindung zwischen Theorie und Experiment. In dieser Richtung sah [Name 1] seine weitere Perspektive, zumal vorgesehen war, den [Name 1] im Herbst 1973 zu Studienzwecken für ein Jahr ins Forschungszentrum CERN, Schweiz – eine auf diesem Gebiet führende Einrichtung – zu delegieren.
Es war weiter vorgesehen, nach seiner Rückkehr zum Institut nach Zeuthen durch ihn eine Arbeitsgruppe auf diesem Gebiet aufzubauen, um stärker auf die Arbeiten auf dem Gebiet der Theorie der Hochenergiephysik in Dubna/UdSSR auszustrahlen.
[Name 1] war seit 1969 Mitglied der SED und hatte eine solche positive politische Entwicklung genommen, dass er bereits 1971 zum Sekretär der GO gewählt wurde.
Allgemein ist einzuschätzen, dass seitdem die Parteiarbeit des Instituts verbessert wurde.
Aufgrund seiner aktiven politischen Arbeit war [Name 1] allgemein über alle Probleme des Instituts informiert. Zu spezifischen Fragen der fachlichen Arbeit des Instituts fehlen ihm detaillierte Kenntnisse. Auskünfte über Arbeitsgebiete anderer Kollegen können deshalb von ihm nur mehr oder weniger global gegeben werden.
Engeren Kontakt unterhielt [Name 1] weder im Institut noch im Freizeitbereich. Persönliche Verbindung besteht lediglich zu seiner Mutter und zu einer Tante.
Seine Eheverhältnisse waren bisher geordnet, aus der 1969 geschlossenen Ehe sind keine Kinder hervorgegangen.
Beide Ehepartner verfügten monatlich über ca. 2 200 M netto. Im Wohngebiet ist der [Name 1] nicht in Erscheinung getreten.
Eine offizielle Auswertung des Vorkommnisses ist im Institut erfolgt.