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Verhinderter Grenzdurchbruch und Provokation aus Westberlin

9. Juli 1973
Information Nr. 641/73 über eine von Westberlin ausgehende Provokation gegen die Staatsgrenze der DDR im Zusammenhang mit dem verhinderten Grenzdurchbruch eines Bürgers der VR Polen

Am 8. Juli 1973, gegen 0.30 Uhr, wurde der Bürger der VR Polen [Name 1, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1940, zuletzt tätig als Hilfsarbeiter in der Dienstleistungsgenossenschaft in Lubań, von 1959 bis 1973 Angehöriger der polnischen Grenztruppen (letzter Dienstgrad Hauptmann), wohnhaft in Lubań, [Straße, Nr.], Mitglied der PVAP seit 1963, durch NVA-Angehörige des 33. Grenzregiments Berlin-Wilhelmsruh beim Versuch, die Staatsgrenze der DDR nach Berlin (West) zwischen Nordgraben und Friedhof Uhlandstraße zu durchbrechen, unter Anwendung der Schusswaffe festgenommen.1

Die bisherigen Untersuchungen des MfS ergaben:

[Name 1] reiste am 6. Juli 1973 im pass- und visafreien Reiseverkehr in die DDR ein und weilte seit dem 7. Juli 1973 in der Hauptstadt der DDR.2

Am 7. Juli, gegen 13.00 Uhr, traf [Name 1] nach eigenen Angaben in Berlin zufällig mit den ihm aus seinem Heimatort bekannten Bürgern der VR Polen, [Name 2, Vorname 1], und dessen Ehefrau [Name 2, Vorname 2], zusammen, die mit ihrem Pkw die DDR bereisten und beabsichtigten, bisher namentlich noch nicht bekannte DDR-Bürger in Schönwalde aufzusuchen.

Alle drei Personen beabsichtigten, die Fahrt gemeinsam fortzusetzen.

Auf der Suche nach der Fahrtstrecke nach Schönwalde gerieten die polnischen Bürger nach Berlin-Wilhelmsruh.

Während das Ehepaar [Name 2] für sich und [Name 1] eine Hotelunterkunft beschaffen wollte, suchte [Name 1] in Berlin-Wilhelmsruh eine Gaststätte auf.

Da das Ehepaar [Name 2] nicht zum vereinbarten Zeitpunkt erschien, verließ [Name 1] die Gaststätte und begab sich seinen Aussagen zufolge in die Nähe des Friedhofes Uhlandstraße, um die dortigen Grenzsicherungsanlagen sowie die Kontrolltätigkeit der Grenzsicherungskräfte zu beobachten.

[Name 1] glaubte bei diesen Beobachtungen, eine günstige Möglichkeit zu einem Grenzdurchbruch festgestellt zu haben und entschloss sich, diese Möglichkeit zu nutzen.

[Name 1] bestreitet bisher, in die DDR mit dem Ziel des ungesetzlichen Grenzübertritts nach Berlin (West) eingereist zu sein.

Er überwand unter Ausnutzung des ca. 50 cm von dem Hinterlandzaun entfernt stehenden Grenzschild-Pfostens den ca. drei Meter hohen Streckmetallzaun sowie den Signalzaun. Dabei löste [Name 1] in zwei Fällen die Signalanlagen aus, worauf ein Posten der NVA vom Postenturm 7/Nordgraben das Feuer auf ihn eröffnete. Die Feuerführung erfolgte parallel zur Staatsgrenze, Westberliner Gebiet wurde nicht beschossen. [Name 1] wurde anschließend innerhalb der Grenzsicherungsanlagen ohne Schussverletzung festgenommen.

Bei dem Versuch, die Staatsgrenze der DDR zu überwinden, hatte sich [Name 1] durch die Flächensperre mehrere Stichwunden an den Händen bzw. an der Fußsohle zugezogen und wurde im Krankenhaus der Volkspolizei ambulant behandelt.

Nach erfolgter Festnahme wurden bei [Name 1] folgende Dokumente sichergestellt:

  • ein Personalausweis mit Vermerken über seine Arbeitsaufnahme im Dienstleistungsbetrieb Lubań, einem Genehmigungsvermerk zum Passieren der Staatsgrenze der VR Polen vom 17.1.1972 und einem Vermerk über die Aushändigung eines Valuta-Passes vom 2.7.1973,

  • eine Arbeitsbescheinigung über seine Tätigkeit bei den polnischen Grenztruppen,

  • ein Valuta-Pass, ausgestellt am 2.7.1973, aus dem ersichtlich ist, dass er am 2.7.1973 und am 5.7.1973 Mark der DDR gegen polnische Währung eintauschte,

  • ein Mitgliedsausweis der Kreisorganisation der Obrony Kraju (Wehrsportorganisation der VR Polen),

  • ein Duplikat eines Reifezeugnisses vom 22.4.1959.

Im Ergebnis der erfolgten Schusswaffenanwendung zur Verhinderung des Grenzdurchbruchs versammelten sich ab 1.10 Uhr feindwärts der Grenzsicherungsanlagen auf Westberliner Gebiet ca. 40 bis 50 Westberliner Bürger, die die diensttuenden Angehörigen der NVA-Grenze u. a. mit solchen Ausrufen wie »Mörder, Verbrecher, und die wollen in die UNO aufgenommen werden« provozierten. Die unmittelbar danach eingetroffenen Westberliner Schutzpolizisten versuchten sie mit den Worten »Nun schießt doch endlich – knallt die Schweine ab«, aufzuputschen.

Durch einige Zivilpersonen wurde danach unter Verletzung des Territoriums der DDR – die Staatsgrenze verläuft ca. zwei bis drei Meter hinter den Grenzsicherungsanlagen in Richtung Westberlin – der am Tatort befindliche Streckmetallzaun aus der Befestigung gerissen und mit in der Sperrmauer befindlichen Platten, die gleichfalls aus ihrer Halterung gebrochen wurden, über die Grenzsicherungsanlagen geworfen. Durch diese Handlungen entstand in der Sperrmauer eine Öffnung von ca. 2,40 m Breite und einer Höhe von ca. 2,75 m.

Durch Angehörige der Westberliner Schutzpolizei sowie in der Folgezeit eingetroffene Angehörige der französischen Besatzungsmacht wurde der betreffende Grenzabschnitt mit Scheinwerfern ausgeleuchtet, intensiv beobachtet und fotografiert.

Gegen 4.00 Uhr riegelte die Westberliner Schutzpolizei die Öffnung in der Sperrmauer ab und drängte die anwesenden Zivilpersonen in das Westberliner Hinterland ab.

Die Arbeiten zur Beseitigung der Schäden an den pioniertechnischen Anlagen wurden danach durch das GK Mitte unverzüglich aufgenommen und gegen 7.00 Uhr beendet.

Im Zusammenhang mit der Verhinderung des Grenzdurchbruchs wurden durch Angehörige der DVP am 8.7.1973 gegen 4.00 Uhr die DDR-Bürger [Name 3, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1954, tätig als Kesselwärter bei der BEWAG in Berlin, Heizkraftwerk Frankfurter Allee Süd, wohnhaft 110 Berlin, [Straße, Nr.], [Name 4, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1956, seit 22.6.1973 ohne Arbeit, wohnhaft 1106 Berlin, [Straße, Nr.], [Name 5, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1955, tätig als Baufacharbeiter im VEB Baureparaturen Berlin-Pankow, wohnhaft 1106 Berlin, [Straße, Nr.], außerhalb des Grenzgebietes in Berlin-Wilhelmsruh festgenommen, da sie im Zusammenhang mit dem verhinderten Grenzdurchbruch mit staatsverleumderischen Äußerungen gegenüber Streifenposten der NVA-Grenze in Erscheinung tragen.

Gegen den polnischen Staatsbürger [Name 1] wurde ein Ermittlungsverfahren gemäß § 213 StGB (Ungesetzlicher Grenzübertritt)3 eingeleitet und Haftbefehl erlassen.

Gegen die DDR-Bürger [Name 3], [Name 4] und [Name 5] wurden durch die VP-Inspektion Berlin-Pankow Ermittlungsverfahren gemäß § 220 StGB (Staatsverleumdung)4 eingeleitet. Es ist vorgesehen, gegen sie beschleunigte Verfahren durchzuführen.

Gegen die in der Information genannten polnischen Bürger [Name 2] wurden Such- und Fahndungsmaßnahmen eingeleitet.

Die Untersuchungen des MfS zur umfassenden Aufklärung der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen des versuchten gewaltsamen Grenzdurchbruchs sowie der provokatorischen Handlungen werden fortgesetzt.

  1. Zum nächsten Dokument kalkulierte Einreisen während der X. Weltfestspiele

    9. Juli 1973
    Information Nr. 642/73 über zu erwartende Einreise von Bürgern der BRD, Westberlins und anderer nichtsozialistischer Länder in die Hauptstadt der DDR, Berlin, im Zeitraum der X. Weltfestspiele

  2. Zum vorherigen Dokument Ungesetzliches Eindringen von BRD-Bürgern in DDR-Gebiet

    3. Juli 1973
    Information Nr. 619/73 über ein ungesetzliches Eindringen von zwei Personen der BRD in das Gebiet der DDR