Verhinderung eines ungesetzlichen Grenzübertritts
7. Juni 1973
Information Nr. 516/73 über die Verhinderung eines ungesetzlichen Grenzübertritts an der Staatsgrenze DDR – Berlin (West) am 5. Juni 1973
Am 5.6.1973, gegen 5.00 Uhr, wurde im Grenzabschnitt Berlin-Mitte, Gartenstraße, die Bürgerin der DDR [Name, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1934, wohnhaft 104 Berlin, [Straße, Nr.], ohne erlernten Beruf, zuletzt tätig als Stationshilfe in der I. Chirurgischen Klinik der Charité (Wachstation), bei dem Versuch, durch Überwindung der Grenzsicherungsanlagen die DDR ungesetzlich zu verlassen, nach Anwendung der Schusswaffe (102 Schuss) durch die Grenzsicherungskräfte der NVA festgenommen.
Gegen die [Name] wurde gemäß § 213 StGB (Ungesetzlicher Grenzübertritt)1 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und Haftbefehl erlassen.
Die bisherigen Untersuchungen ergaben:
Die [Name] hatte am 5.6.1973, gegen 5.00 Uhr, vom Vorplatz des Nordbahnhofes kommend, in unmittelbarer Nähe der dort befindlichen Mensa der Humboldt-Universität, das Grenzsperrgebiet betreten. Sie überkletterte den Hinterlandsicherungszaun und unterkroch anschließend den Signalzaun, wobei sich dieser auslöste.
Mit der Signalauslösung wurde der Grenzverletzer durch die in diesem Grenzabschnitt auf dem Postenturm Gartenstraße (65 m Entfernung) und auf dem Postenturm Liesenstraße (400 m Entfernung) eingesetzten Grenzsicherungskräfte der NVA festgestellt und sofort durch Anruf vom Postenturm Gartenstraße zum Stehenbleiben aufgefordert. Dieser Aufforderung leistete die [Name] nicht Folge und bewegte sich in schnellen Schritten in Richtung der Grenzmauer, von der sie zu diesem Zeitpunkt noch ca. 25 m entfernt war. Daraufhin wurde durch die Grenzsicherungskräfte die Schusswaffe zur Anwendung gebracht, wobei vom Postenturm Gartenstraße elf Schuss und vom Postenturm Liesenstraße, bei welchem sich zu diesem Zeitpunkt noch weitere Kräfte der NVA (Zugführer, zwei Posten) befanden, insgesamt 91 Schuss auf den Grenzverletzer abgegeben wurden.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass durch die Feuerführung das Gebiet Westberlins verletzt wurde.
Nach Einstellung der Feuerführung bewegte sich die [Name] ca. drei Meter von der Grenzmauer entfernt in schnellen Schritten auf und ab, wobei sie offensichtlich nach einer Möglichkeit der Überwindung der Grenzmauer suchte. Bei dem Versuch der Festnahme durch die am Tatort eingetroffenen Grenzsicherungskräfte versuchte die [Name] ein von ihr mitgeführtes, ca. 20 cm langes Küchenmesser zur Anwendung zu bringen, was ihr jedoch, noch bevor der Grenzposten Abwehrhandlungen durchführen konnte, durch einen plötzlichen Sturz über ein natürliches Hindernis (Splitthaufen) nicht gelang.
Da sich die [Name] weigerte, aufzustehen, um sich schlug und im lautesten Ton gegenüber den Grenzsicherungskräften solche Formulierungen gebrauchte, wie »Schießt mich tot« u. a., musste von den Grenzsicherungskräften einfache körperliche Gewalt angewandt werden, um die [Name] hochzuheben und vom Festnahmeort aus dem unmittelbar einsehbaren Abschnitt bis zu dem bereits eingetroffenen Kraftfahrzeug zu transportieren.
Die einfache körperliche Gewaltanwendung bestand hierbei darin, dass die [Name] durch zwei Grenzsoldaten unter den Armen gefasst und getragen bzw. geschleppt wurde, da sie sich weigerte, selbst zu laufen.
Diese detaillierte Darstellung des Tatgeschehens und der Handlungen der Grenzsicherungskräfte widerlegt eindeutig die verleumderischen Darstellungen in der Tagespresse der BRD und Berlin (West) über angebliche körperliche Misshandlungen dieser Person.2
Mit Eröffnung der Feuerführung wurde der weitere Handlungsablauf durch mehrere Bewohner der auf Westberliner Seite anliegenden Häuser beobachtet. Nach der erfolgten Festnahme der [Name] beobachteten mehrere zwischenzeitlich eingetroffene Angehörige der Westberliner Polizei und des Zolls sowie französische Besatzer den betreffenden Grenzabschnitt.
In der bisherigen Untersuchung wurde zur Person der [Name] bekannt, dass ihr Ehemann im Frühjahr 1972 verstorben ist und ihre Tochter im Mai 1973 wegen asozialer Lebensweise in Haft genommen wurde. In dieser, ihren eigenen Angaben zufolge, ausweglosen familiären Situation, will sie mit der Absicht, sich erschießen zu lassen, in das Grenzsperrgebiet eingedrungen sein. Das bisherige Verhalten der [Name] in der Untersuchung lässt den Schluss zu, dass sie an Verfolgungswahn leidet.
Maßnahmen zur psychiatrischen Begutachtung wurden eingeleitet.
Die Untersuchungen zur umfassenden Aufklärung der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen werden fortgesetzt.