Westdeutsche Vorwürfe gegen evangelische Kirchen der DDR
28. November 1973
Information Nr. 1204/73 über Vorwürfe westdeutscher politisch-klerikaler Kräfte gegen die evangelischen Kirchen in der DDR
Dem MfS wurde intern zuverlässig bekannt, dass im August 1973 in Schweden eine Zusammenkunft zwischen Bischof Schönherr,1 DDR, Bischof Scharf,2 Berlin (West), einem namentlich bisher nicht bekannten Bischof aus der BRD und einem Vertreter der imperialistischen Finanzkreise der BRD stattfand. (Dieses Zusammentreffen fand während des Urlaubsaufenthaltes Schönherrs in Schweden statt.) Organisiert wurde dieses Treffen von dem Westberliner Konsistorialpräsidenten Flor,3 nach seinen eigenen Ausführungen im Auftrage von Bundeskanzler Brandt4 und dem Regierenden Bürgermeister von Berlin (West) Schütz.5 (Flor, ehemals Mitarbeiter des Bonner Auswärtigen Amtes, unterhalte engen Kontakt zu Bundeskanzler Brandt.)
Bei dieser Aussprache soll gegen Bischof Schönherr der Vorwurf erhoben worden sein, unter seiner Leitung betreibe die evangelische Kirche in der DDR eine den »gesamtdeutschen« Interessen widersprechende Politik. Führende klerikale Kreise in der BRD und in Berlin (West) hätten die Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR6 als eine den Verhältnissen entsprechende notwendige taktische Variante angesehen. Die von Bischof Schönherr danach betriebene Politik der eigenständigen Entwicklung der evangelischen Kirchen in der DDR finde jedoch weder bei der Bundesregierung, dem Senat von Berlin (West), den Vertretern der evangelischen Kirchen in der BRD noch in westdeutschen Finanzkreisen Zustimmung. Nach Meinung von Bundeskanzler Brandt und des Regierenden Bürgermeisters von Berlin (West) Schütz seien die evangelischen Kirchen in der DDR dazu prädestiniert, politisch-ideologischen Einfluss im westlichen Sinne auf die Bürger der DDR zu nehmen. Schönherr dagegen unterstütze die Interessen der DDR.
Die Teilnehmer an der Aussprache, insbesondere Bischof Scharf, sollen gefordert haben, dass Bischof Schönherr unverzüglich seine Haltung ändert und eine Kirchenpolitik betreibt, die den »gesamtdeutschen« und »gesamteuropäischen« Interessen entspricht. Sollte er dieser Forderung nicht nachkommen, so würden in Zukunft die den evangelischen Kirchen in der DDR gewährten finanziellen Zuwendungen seitens der BRD (Bundesregierung, Leitung der »Evangelischen Kirche Deutschlands«) völlig eingestellt werden.7
Bischof Schönherr soll entgegnet haben, er könne seine Haltung nicht ändern, sonst würden sich die ohnehin vorhandenen Schwierigkeiten im Verhältnis zwischen Staat und Kirche in der DDR weiter zuspitzen. Man könnte den evangelischen Kirchen dann den Vorwurf machen, »fünfte Kolonne« zu sein.
Das würde nach seiner Meinung auch nicht den Interessen einer »gesamtdeutschen« Politik entsprechen.
Er habe mit einem so massiven Druck auf die evangelischen Kirchen der DDR nicht gerechnet. Er würde jedoch gegebenenfalls die Mitarbeiter der evangelischen Kirchen in der DDR aufrufen, auf finanzielle Zuwendungen aus der BRD zu verzichten.
Bischof Scharf soll dazu erklärt haben, er sei mit Schönherrs Haltung keineswegs einverstanden. Er – Scharf – würde deshalb in absehbarer Zeit von sich aus Verbindungen zu leitenden kirchlichen Amtsträgern in der DDR aufnehmen bzw. aktivieren, um diese für das obengenannte Ziel zu gewinnen.
Bischof Schönherr ließ unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Schweden mit dem Hinweis auf strengste Geheimhaltung durch Mitarbeiter des Finanzausschusses des Bundes bereits Berechnungen darüber anstellen, welche Auswirkungen der Wegfall der finanziellen Zuwendungen aus der BRD haben würde. Dabei ist festgestellt worden, dass sich die Gehälter der kirchlichen Amtsträger und Angestellten im Durchschnitt um ca. 27 bis 30 % verringern würden. Noch schwieriger sei der Wegfall von Sachzuwendungen (Pkw, Benzinschecks u. Ä.), die über GENEX8 erfolgen.
Dem MfS wurde weiter intern bekannt, dass am 9. und 10.10.1973 in Potsdam eine interne Konferenz aller Bischöfe, Chef-Juristen und Finanzexperten der evangelischen Landeskirchen der DDR stattfand, auf der die sich durch einen möglichen Wegfall der Zuwendungen aus der BRD ergebende finanzielle Lage des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR beraten wurde.
Den Finanzexperten wurde dabei der Auftrag erteilt, in Vorbereitung eines solchen Falles ein »Notprogramm« zu erarbeiten.
Gegenwärtig werden von »zuverlässigen« Finanzexperten der Landeskirchen Überlegungen und Berechnungen im Zusammenhang mit der Erarbeitung eines »Notprogrammes« angestellt.
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