Westpresse über DDR-Ausreisen durch medizinisches Personal
6. August 1973
Zusammenfassung der Ergebnisse der Analyse und Überprüfung von Veröffentlichungen der Westpresse über verstärktes ungesetzliches Verlassen der DDR durch Ärzte und medizinisches Personal [Bericht K 1/41a]
In den Presseorganen der BRD und Westberlins erschienen seit Anfang Juli 1973 wiederholt Artikel und Meldungen, in denen eingeschätzt wurde, dass in der »Fluchtbewegung« des ersten Halbjahres 1973 als »Trend« ein verstärktes illegales Verlassen der DDR durch Ärzte und medizinisches Personal hervorstechend sei und worin über Gründe, Anlässe und Motive für diese Fluchten berichtet wurde.
Verbunden wurden diese Berichte mit der Behauptung, in der DDR habe das eine »Verhaftungswelle« gegen Ärzte ausgelöst, »um weitere fluchtwillige Mediziner« vor einer Flucht »abzuschrecken«.1
Zusammenfassend enthielten diese Veröffentlichungen folgende Einzelheiten:
Zeitraum | Gesamtzahl der Fluchten | davon Ärzte | Quellen |
|---|---|---|---|
erstes Halbjahr 1973 | 2 973 | 150 | Amtliche Angaben; »Bundesärztekammer«, »informierte Kreise Ostberlins« (Welt am Sonntag, 22.7.1973;2 Die Welt 23.,3 26.,4 27.7.1973;5 FR 27.7.1973;6 Bild-Zeitung, 28.7.19737) |
erstes Halbjahr 1973 | 3 000 | 115 (4 %) | Bundesregierung, Senat von Berlin (West) (Der Spiegel, 23.7.1973;8 Die Welt, 24.7.19739) |
[–] | [–] | 650 | »interne Konferenz in Ostberlin« (Bild-Zeitung, 1.8.197310) |
[–] | [–] | 83 | »Hartmannbund« und Senat von Berlin (West) (NRZ,11 WAZ, 23.7.1973;12 AFP, 24.7.1973;13 BZ, 26.7.197314) |
[–] | [–] | 109 | »Zentralstelle zur Erfassung der Flüchtlinge aus der DDR Wiesbaden« und Senat von Berlin (West) (NRZ,15 WAZ, 24.7.74;16 dpa, 23.7.1973;17 AFP, 24.7.1973;18 BZ, 26.7.197319) |
Januar bis Mai 1973 | 2448 | 80 | »Bundesinnenministerium« (Die Welt, 3.7.1973;20 FAZ, 21.7.1973;21 Bild-Zeitung 27.7.197322) |
Unter den 2 448 Flüchtlingen befanden sich laut Angaben des Bundesinnenministeriums 576 direkte »Sperrbrecher«, die die Grenzsicherungsanlagen »unter unmittelbarem Einsatz von Leib und Leben überwanden«.
Als territoriale Schwerpunkte der Flucht von Ärzten und medizinischem Personal in der DDR nennt die West-Presse:
Berlin mit 85 Fluchten seit Anfang 1973 – und hier besonders die Charité und das Krankenhaus Friedrichshain – und die Bezirke Halle und Frankfurt/Oder (Welt am Sonntag, 22.7.1973; Der Spiegel, 23.7.1973; Die Welt, 27.7.1973, Bild-Zeitung, 27.7. und 28.7.1973)
Nach »Bild-Zeitung« vom 1.8.1973 »flüchteten allein aus Ostberlin 65 Ärzte«.
Ergebnis der Überprüfungen dieser Veröffentlichungen:
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Nach dem MfS bisher vorliegenden Hinweisen – über die in einer schriftlichen Information des MfS an Außenverteiler bisher nicht berichtet wurde – haben im ersten Halbjahr 1973 1 210 Bürger der DDR (gleicher Zeitraum Vorjahr – 827) die DDR ungesetzlich verlassen, davon 94 durch direktes Überwinden der Grenzsicherungsanlagen,
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31 durch Schleusungen bzw. auf bisher unbekannten Fluchtwegen, an deren operativer Aufklärung noch gearbeitet wird,
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804 mit Dokumenten des grenzüberschreitenden Verkehrs. (Darunter
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35 unter Ausnutzung von Dienstreisen bzw. dienstlichem Aufenthalt in nichtsozialistischen Staaten,
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57 über das sozialistische Ausland,
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564 während Rentnerreisen in das nichtsozialistische Ausland,
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148, die Reisen in dringenden Familienangelegenheiten in die BRD, andere nichtsozialistische Staaten und Berlin (West) zum ungesetzlichen Verlassen der DDR ausnutzten.)
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Unter den 1 210 DDR-Bürgern, welche die DDR im I. Halbjahr 1973 ungesetzlich verlassen haben, befanden sich u. a.
102 Angehörige des Gesundheitswesens der DDR (darunter
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78 Ärzte,
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2 Chefärzte,
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4 Oberärzte,
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28 Fachärzte,
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26 frei praktizierende Ärzte,
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19 mittlere medizinische Personale,
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5 Arbeiter und andere Angestellte des Gesundheitswesens).
Im Zusammenhang mit diesen statistischen Angaben der Westpresse erfolgten auch Veröffentlichungen über die Verhaftung von Ärzten in der DDR wegen »Fluchtvorbereitungen«.
Unter Berufung auf Verlautbarungen aus der Charité bzw. »von unterrichteter Seite« wurde z. B. gemeldet, »in letzter Zeit seien vom MfS 50 Ärzte verhaftet worden, weil sie in die BRD hätten flüchten wollen«. (FAZ, 21.7.1973; Welt am Sonntag, 22.7.1973).
Auf den Zeitraum der letzten zwei Monate bezogen, berichtete die Bild-Zeitung am 28.7.1973, dass »allein in Berlin 35 Ärzte wegen Fluchtvorbereitungen verhaftet« worden seien.
Namentlich gemeldet wurde nur die Festnahme des Gynäkologen der Charité, Prof. Dr. Hans Igel.23
Mit seiner Festnahme und der Verhaftung von zwei weiteren Ärzten seines Institutes an der Charité sei die »Massenflucht von neun Ostberlinern misslungen«, weil die »Aktion von einem Spitzel des MfS verraten« worden sei. (Bild-Zeitung, 27.7.1973)
In der Information des MfS (Nr. 586/73) vom 3.7.1973 über die Aktivitäten der Menschenhändlerbanden24 zur Organisierung und Durchführung der Abwerbung und Ausschleusung von Bürgern der DDR wurde u. a. erwähnt:
»… Im Zeitraum vom 1.7.1972 bis 18.6.1973 haben nach vorliegenden Hinweisen
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157 Ärzte (82 Fachärzte, 24 Zahnärzte),
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63 mittlere medizinische Personale,
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34 Medizinstudenten,
- –
30 Arbeiter u. a. Angestellte des Gesundheitswesens
sie DDR ungesetzlich verlassen.
Zurzeit befinden sich 63 Angehörige des Gesundheitswesens (u. a. 32 Ärzte, acht Zahnärzte, zwei Apotheker) die wegen vorbereiteten und versuchten ungesetzlichen Verlassens der DDR durch das MfS bearbeitet wurden, in Haft«.
Bezogen auf die bisher einzige Nennung des Namens der verhafteten Ärzte (Prof. Dr. Igel) ist davon auszugehen, dass die Hinweise zu dieser Festnahme und der Verhaftung von zwei weiteren Ärzten von der Ehefrau des Igel stammen, die am 12.7.1973 unter Ausnutzung einer Rentnerreise nach Westberlin die DDR ungesetzlich verlassen und offensichtlich Kenntnis von der organisierten Schleusung hatte.
(Über die Verhinderung der Ausschleusung des Prof. Igel und weiterer Personen wurde in der Information des MfS Nr. 662/73 vom 13.7.1973 berichtet.)
Ein Vergleich der in der Westpresse veröffentlichten Zahlenangaben mit den dem MfS bisher vorliegenden Hinweisen und den in der Information des MfS Nr. 586/73 vom 3.7.1973 verarbeiteten Zahlenmaterial führte zu folgendem Ergebnis:
- 1.
Die Zeiträume, über welche Zahlenangaben veröffentlicht wurden, stimmen nicht überein.
(In der Westpresse wurde der Zeitraum des I. Halbjahres 1973 bzw. die Monate Januar bis Mai 1973 herangezogen.
Für die Information Nr. 586/73 wurde der Zeitraum vom Inkrafttreten des Transitabkommens25 und der Reise und Besuchervereinbarung26 – 4.6.1972 – bis 31. Mai 1973 bzw. – bezogen auf das ungesetzliche Verlassen der DDR durch Angehörige des Gesundheitswesens der DDR – der Zeitraum vom 1.7.1972 bis 18.6.1973 zugrunde gelegt.)
- 2.
Der Vergleich der in der Westpresse veröffentlichten Angaben über die Gesamtzahl der Personen, die die DDR im I. Halbjahr 1973 illegal verlassen haben, mit den dem MfS bisher vorliegenden Hinweisen über die Gesamtzahl des ungesetzlichen Verlassens der DDR im I. Halbjahr 1973 (über die seitens des MfS bisher in keiner schriftlichen Information an Außenverteiler berichtet wurde) ergibt wesentliche Differenzen.
(In der Westpresse wird für das I. Halbjahr 1973 eine Gesamtzahl von 2 973 (bzw. 3 000) »Fluchten« (für die Monate Januar bis Mai 1973 2 448 Fluchten) angegeben.
Dem MfS bisher vorliegenden Hinweisen zufolge haben im I. Halbjahr 1973 1 210 DDR-Bürger die DDR ungesetzlich verlassen, darunter 94 (laut Westpresse von Januar bis Mai 1973 576) durch direktes Überwinden der Grenzsicherungsanlagen (laut Westjargon »Sperrbrecher«).
Zum Anteil der Ärzte an der Gesamtzahl des ungesetzlichen Verlassens der DDR im I. Halbjahr 1973 werden in der Westpresse Zahlen von 83 bis 150 Ärzten (und wesentlich abweichend davon in einem Fall von 650 Ärzten) veröffentlicht.
In der Information Nr. 586/73 des MfS (Seite 9) wird für den Zeitraum vom 1.7.1972 bis 18.6.1973 über das ungesetzliche Verlassen der DDR durch 157 Ärzte und weitere 127 Angestellte des Gesundheitswesens bzw. Medizinstudenten berichtet.
- 3.
Ein Vergleich der erfolgten Festnahmen von Ärzten wegen der Vorbereitung bzw. des Versuchs des ungesetzlichen Verlassens der DDR mit den Westpresse-Veröffentlichungen über diesbezügliche Verhaftungen ergab ebenfalls keine Übereinstimmungen (weder vom Zeitraum, noch den Zahlenangaben).
Laut Westpresse wird geschrieben von »… in letzter Zeit seien vom MfS 50 Ärzte« bzw. »… in den letzten zwei Monaten (veröffentlicht am 28.7.1973 in der Bild-Zeitung) allein in Berlin 35 Ärzte verhaftet« worden.
In der Information Nr. 586/73 des MfS vom 3.7.1973 wird darüber berichtet, dass sich gegenwärtig (dazu wurde der Stand vom 18.6.1973 verwendet) 63 Angehörige des Gesundheitswesens, darunter 32 Ärzte, acht Zahnärzte und zwei Apotheker, die wegen vorbereiteten und versuchten ungesetzlichen Verlassens der DDR durch das MfS bearbeitet wurden, in Haft befinden.
2. Gründe, Anlässe und Motive für das ungesetzliche Verlassen der DDR durch Ärzte27
Bei den bisher in der Westpresse veröffentlichten und im Folgenden thesenartig zusammengefassten Gründen, Anlässen und Motiven des illegalen Verlassens der DDR durch Ärzte beruft man sich im Wesentlichen auf Aussagen republikflüchtig gewordener Ärzte. Danach wurden Fluchten durch folgende Faktoren ausgelöst bzw. begünstigt:
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die rasche Entscheidung und das alternativfordernde Ansprechen der Ärzte in ihren Wohnungen durch Beauftragte bzw. Mitarbeiter von »Fluchthilfeorganisationen«; (Der Spiegel, 23.7.1973)
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die finanzielle und materielle Lage der Ärzte, die es möglich mache, den »Fluchthilfeorganisationen« die geforderten Preise für Schleusungen zahlen zu können; (Der Spiegel, 23.7.1973)
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die ständige Informierung der »Fluchthilfeorganisationen« durch republikflüchtig gewordene Ärzte, welche Ärzte ihres Bekanntenkreises in der DDR zwec
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die »politische Abstinenz« der Ärzte und die »verbreitete Unlust, sich fachfremden Funktionären unterzuordnen – z. B. erhielten nur Ärzte, die sich während des Studiums in der politischen Arbeit bewährt hätten, als besonderes Privileg eine Anstellung in Berlin. Die Mehrheit der Ärzte würde nach dem Studium in zum Teil entlegene Dörfer zwangsverpflichtet«. (»Über jeden Medizinstudenten führe die SED eine Kaderliste. Inhalt: Vergangenheit der Eltern, Verwandte im Westen, politisches Bewusstsein des Studenten.« Bild-Zeitung, 1.8.1973)
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In den staatlichen Krankenhäusern würden Stationskollektive in Wettbewerben zu wirtschaftlich-rationellem Handeln in der Patientenversorgung aufgefordert. Dies stehe im Widerspruch zu der freien Entscheidung des Arztes, welche Behandlung für den individuellen Fall notwendig und unerlässlich sei. (Der Spiegel, 23.7.1973; Die Welt, 26.7.1973)
Auch beim Erwerb des Titels »Kollektiv der sozialistischen Arbeit« komme »die Versorgung der Patienten zu kurz«. Teil dieses Wettbewerbs sei auch die Ausgestaltung der Station durch das Stationspersonal.
Das bedeute: »Schrubben, Wände streichen, Fenster malen und eine gute Wandzeitung machen.« (Bild-Zeitung, 1.8.1973)
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den »politischen Druck der Partei« auf die Ärzte – z. B. von ihnen auch »Dienst auf Agitationsveranstaltungen« zu erwarten oder sie »durch Verwaltungsarbeit zunehmend von ihren eigentlichen Aufgaben zu absorbieren«.
(In der Charité z. B. bestehe »seit Langem zwischen der Partei und den Ärzten des Hauses ein gespanntes Verhältnis. Vor allem junge Mediziner versuchten immer wieder, sich dem Einfluss der SED zu entziehen«.) Nach Meinung von Prof. Henneberg,28 Präsident des Bundesgesundheitsamtes, stehe an erster Stelle der Fluchtmotive von Ärzten aus der DDR »der politische Druck der Partei, aus Medizinern Funktionäre und im Zuge der Abgrenzungspolitik auch Geheimnisträger machen zu wollen«. (Welt am Sonntag, 22.7.1973, Die Welt, 23., 24. und 26.7.1973)
(Ein nach Westberlin geflüchteter Gynäkologe eines konfessionellen Krankenhauses in Berlin habe z. B. erklärt: »Bürokratischer Kleinkram und der Zwang zur sogenannten gesellschaftspolitischen Arbeit fressen uns auf. Wir kommen nicht dazu, Arzt zu sein.« Bild-Zeitung, 1.8.1973)
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das »allgemeine Unbehagen über Mangelerscheinungen im Gesundheitswesen – z. B. Verteilungsschwierigkeiten bei Antibiotika, fehlende Antibiotika, reduziertes Pflegepersonal, geringe Krankenhausneubauten«; (Welt am Sonntag, 22.7.1973, Der Spiegel, 23.7.1973; Welt 26.7.1973)
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die »nicht mehr gegebene Voraussetzung für eine ausreichende medizinische Betreuung« infolge fehlender und minderwertiger Medikamentenversorgung, die die Ärzte »zu kaum zu verantwortenden Behandlungen der Patienten zwinge«;
»Wie Prof. Henneberg, Präsident des Bundesgesundheitsamtes erklärte, würden viele Ärzte durch die unverständliche Haltung der Regierung der DDR keine Möglichkeit sehen, ihre Patienten selbst in dringenden Fällen mit Medikamenten und Spezialpräparaten zu versorgen, die aus dem Westen stammen«. (Die Welt, 26.7.1973)
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die Erwartung und Hoffnung, »im Westen bessere Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten zu finden«. Viele Ärzte fühlten sich »in finanziellen Privilegien zu stark beschnitten«. Zum Beispiel bekäme 1 400 Mark auch eine Schweinezüchterin in der DDR. Andererseits sei bekannt, dass »ein Jung-Arzt in der BRD seine 4 000 Mark verlangt und auch bekomme« bzw. das »Mehrfache von jenen 1 500 Mark verdiene, die ein junger Arzt in der DDR durchschnittlich erhalte«. (Welt am Sonntag, 22.7.1973; Die Welt, 24.7.1973; Frankfurter Rundschau, 27.3.1973)
Während »in der BRD ein Assistenz-Arzt rund 2 300 Mark« verdiene, erhalte der Mediziner in der DDR im »ersten Jahr 700 Mark Brutto«, das seien »530 Mark Netto, im fünften Jahr 1 200 Mark Brutto, das seien rund 900 Mark Netto«.
Ein Chefarzt in der DDR mit Intelligenzschein, der zum »bevorzugten Autokauf« berechtige, den »Kindern Studienplätze« und ihm »selbst eine höhere Rente« garantiere, erhalte »2 500 Mark Monatsgehalt«.
Diese Scheine würden heute in der DDR »nur noch sparsam ausgegeben«. (Bild-Zeitung, 1.8.1973)
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die Kenntnis über »verhältnismäßig leichte Startbedingungen für ärztliche Berufe in der BRD.« (Die Welt, 26.7.1973)
Zum Beispiel veröffentlichten die »Frankfurter Rundschau« und »Der Tagesspiegel« am 27.7.1973 eine Meldung, dass der Vorsitzende des Berufsverbandes der Chirurgen in der BRD, Dr. Wolfgang Müller-Osten,29 der Fachzeitschrift »Ärztliche Praxis« ein Interview gewährte, in dem er erklärte, »in der BRD fehlen 2 000 bis 3 000 Chirurgen«.30 Ein besonderer Mangel an Chirurgen bestehe in ländlichen Krankenhäusern.
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die nach dem 13.8.1961 erfolgte stillschweigende Rücknahme aller Zugeständnisse, die den Ärzten der DDR in den Jahren 1958 bis 1961 gemacht worden seien. (FAZ, 21.7.1973)
In der Information des MfS Nr. 586/73 wurde erwähnt:
»… Dem MfS liegen Hinweise darüber vor, dass die Ausschleusung von Angehörigen der medizinischen und medizinisch-technischen Intelligenz zielgerichtet durch das enge Zusammenwirken von Pharmaziekonzernen, medizinischen Gesellschaften und Ärztevereinigungen (z. B. dem »Hartmann-Bund«31) der BRD mit Menschenhändlerbanden und unter Einbeziehung weiterer Personen aus der BRD und Berlin (West), die Verbindungen in die DDR unterhalten, organisiert und realisiert wird.«
3. Hinweise auf Aktivitäten des MfS
In den Veröffentlichungen der Westpresse wurde im Zusammenhang mit den Meldungen über erfolgte Verhaftungen von Ärzten wiederholt das MfS erwähnt und behauptet, diese Verhaftungen ließen »auf eine verstärkte Aktivität des MfS schließen«, die folgende zwei Ziele verfolge:
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Durch »eine Verhaftungswelle unter Medizinern eine abschreckende Wirkung« zu erzielen, »weil dadurch die besondere sicherheitsdienstliche Überwachung in den Kliniken und Ambulatorien offenkundig« werde »und Fluchtwillige kaum damit rechnen« könnten, »dass ihre Pläne unbemerkt bleiben«.
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Die DDR bemühe sich zurzeit, den »Nachweis« zu erbringen, dass »die infolge des Transitabkommens eingeführten Erleichterungen Fluchtunternehmungen begünstigen«, um »Erschwernisse auf den Transitwegen einzuleiten«. (FAZ, 21.7.1973; Der Tagesspiegel, 24.7.1973)
Zur Untermauerung letzterer Behauptung und offensichtlich als »Warnung« an »Fluchthelfer« gedacht, wurde besonders auf eine verstärkte Überwachung der Transitstrecken,32 vor allem der Überlandstraße 5 Berlin – Hamburg sowie der Autobahn Berlin – Marienborn hingewiesen. (Der Spiegel, 23.7.1973; Die Welt, 23.7.1973)
Eine weitere Erwähnung erfährt das MfS im Zusammenhang mit den »Fluchtgründen« und Motiven der Ärzte, indem behauptet wird, »im Unterschied zur breiten Masse der Bevölkerung« würden hohe Parteifunktionäre, VP und MfS-Angehörige eine »vorzügliche Behandlung und komfortable Unterbringung in eigens reservierten Krankenhäusern erhalten«. (Welt, 26.7.1973)
4. Weitere politisch-operativ interessierende Probleme
Die Veröffentlichungen der Westpresse über verstärkte Fluchten von Ärzten aus der DDR enthalten darüber hinaus Hinweise zu weiteren politisch-operativ interessierenden Problemen:
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In Kreisen der Bonner Regierung werde nicht ausgeschlossen, dass Staatssekretär Kohl33 unter Hinweis auf Praktiken der »Fluchthilfeorganisationen« demnächst Bahr34 grundsätzlich auf das Fluchtthema ansprechen und fordern werde, dass die BRD ihrerseits gegen »Fluchthilfeorganisationen« u. a. »Fluchthilfemaßnahmen initiativ werden« müsse, »um die Transitstrecken von restriktiven Maßnahmen freizuhalten«. Wie Bahr auf diese Forderungen reagieren werde, sei »noch nicht zu erkennen«.
Bisher hätten die Vertreter der BRD und von Berlin (West) in der Transitkommission35 immer betont, dass »Fluchthilfe kein strafbares Delikt und daher eine Strafverfolgung von Fluchthelfern nur bei Straftaten, wie Urkundenfälschung oder Erpressung, möglich« sei. (FAZ, 23.7.1973,36 Die Welt, 24.7.1973, Tagesspiegel, 24.7.1973,37 Spiegel, 6.8.197338)
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Die Flucht von Ärzten aus der DDR erfährt durch staatliche Organe und durch Berufsorganisationen in der BRD und in Berlin (West) direkte Förderung.
Wie »Der Spiegel« am 23.7.1973 berichtete, erteilten z. B. die Ländergesundheitsbehörden folgender Bundesländer der BRD und des Senats von Berlin (West) im ersten Halbjahr 1973 aus der DDR geflüchteten Ärzten die Approbation.
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Niedersachsen – 12 Ärzten,
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Sozialministerium von Hessen – 15 Ärzten,
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Gesundheitssenator von Berlin (West) – 12 Ärzten.
Die »Zentralstelle für Arbeitsvermittlung«, Frankfurt/Main, vermittelte im gleichen Zeitraum »20 Ost-Ärzte in bundesdeutsche Kliniken«.
Wie Dr. Helga Pietsch39 von der Zentralstelle erklärte, seien die »Krankenhäuser froh, wenn sie Deutsche aus der DDR statt Ausländer bekommen würden«.
Der Hartmannbund (schon vor dem 13.8.1961 als Abwerbeorganisation in Erscheinung getreten) zahlt Ärzten aus der DDR nach ihrem Eintreffen in der BRD »150 DM Begrüßungsgeld aus Stiftungsmitteln«. (Der Spiegel, 23.7.1973)
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Über die Praktiken der »Fluchthilfeorganisationen« berichtete »Der Spiegel« vom 23.7.1973 folgende Einzelheiten:
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Fluchthelfer bieten in Berlin (West) in Tageszeitungen ihren »Beistand bei Problemen mit der Übersiedlung von Verwandten in der DDR« unter folgenden Adressen an: 04/8968 Ullstein GmbH, 1 Berlin 61, Hermannplatz 7, AK 22 BZ, Berlin, 11, Postfach.
Laut »Der Spiegel« vom 6.8.1973 seien »etwa 20 Firmen, die zwischen zehn bis 50 Menschen beschäftigen, im Fluchtbusiness« tätig. Ihre Eigentümer würden »als Millionäre gelten«.
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Fluchthelfer suchen Ärzte, die ihnen von republikflüchtigen Ärzten »als republikmüde« avisiert wurden »in ihren Wohnungen« in der DDR auf, stellen sie vor die Entscheidung und vereinbaren nach Einwilligung in die Schleusung den Schleusungstermin und Preis.
Schleusungswillige müssten in »kürzester Zeit« den Schleuserpreis »zusammenraffen«.
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Fluchthelfer würden versuchen, in Lokalen, »etwa um den Westberliner Fruchthof in der Beusselstraße, Staatenlose und Gastarbeiter« als Agenten »anzuheuern, die für 500 bis 1 000 Mark Gage den riskanten Part der Flüchtlingsaufnahme auf DDR-Gebiet und des Durchschleusens übernehmen sollen«.
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Der britischen Nachrichtenagentur Reuter (19.7.1973) sei von informierter Quelle in Berlin (West) mitgeteilt worden, »dass die angeblichen Banden (Fluchthilfeorganisationen) nur für einen Teil der Fluchten über die Transitstrecken verantwortlich« seien.
Der Quelle zufolge werden weitere Fluchten »auf privater Ebene zwischen Freunden zu beiden Seiten der Grenze organisiert«.
Das sei nach Ansicht der Agentur möglich, weil »Ostdeutsche es jetzt einrichten« könnten, »von einem vorbeifahrenden Westauto an der Autobahn aufgenommen zu werden und sich im Kofferraum zu verstecken, bis sie sicher über die Grenze gekommen« seien.
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Als Ermunterung, Schleusungen zu wagen, sind auch die in der FAZ vom 23.7.1973 in diesem Zusammenhang getroffene Feststellung, dass das »Kontroll- und Überwachungsnetz auf den Transitstrecken nicht so engmaschig (ist), dass ein sorgfältig vorbereitetes Fluchtunternehmen nicht gelingen könnte« sowie die Behauptung zu werten, der größte Teil der 3 000 Flüchtlinge sei über die Transitstrecken geflüchtet, »versteckt in Kofferräumen von Pkw oder unter Planen und Laderäumen von Lastwagen«. (Der Spiegel, 23.7.1973; Die Welt, 24.7.1973)
Wie der »The Daily-Telegraph« am 31.7.1973 unter Berufung auf »zuverlässige Quellen« berichtete, sollen »von annähernd 50 Flüchtlingen, die sich im vergangenen Monat (Juni) in Westberlin meldeten, 45 auf diesen Straßen dorthin gelangt sein«.40
5. Hinweise auf mögliche Maßnahmen seitens der DDR zur Abwehr der »Fluchthilfe« über Transitstrecken
Hinweise auf mögliche Gegenmaßnahmen der DDR zur Abwehr der »Fluchthilfe« auf Transitstrecken häuften sich in der Westpresse vor allem nach der namentlichen Bekanntgabe der Inhaftierung von zwei Fluchthelfern aus Österreich und der Kommentierung dieser Meldung durch ADN.
Diese Hinweise, in denen sich die Westpresse – ausgehend vom Transitabkommen – auf »Hinweise aus Ostberlin« und »Befürchtungen der Bundesregierung« berief, beinhalteten im Einzelnen, dass die DDR plane:
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Mit der Veröffentlichung von »Berichten über Fluchthelfer und professionelle Menschenhändler … restriktive Maßnahmen im Interzonenverkehr … psychologisch« vorzubereiten und »in der BRD und Berlin (West) eine Stimmung zu erzeugen, die Fluchthilfe im Interesse eines reibungslosen Berlin-Verkehrs kategorisch ablehnt«. (FAZ, 21.7.1973, Morgenpost, 1.8.197341)
Was die Anwendung »restriktiver Maßnahmen« seitens der DDR im Rahmen des Transitabkommens betrifft, wurden in den Kommentaren der Westpresse nuanciert folgende Möglichkeiten in Betracht gezogen
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»Unmittelbar nach der UN-Aufnahme der DDR soll das Transitabkommen sehr restriktiv ausgelegt und die Grenzkontrollen wieder verschärft werden«. (Morgenpost, 1.8.1973)
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die DDR plane die »Anwendung aller besonderen Kontrollmöglichkeiten, die in den Abkommen vorgesehen sind«. (Combat, 30.7.197342)
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beabsichtigt sei: »die bisher großzügig gehandhabten Vereinbarungen einzuschränken und vielleicht sogar, was die Abfertigung an der Grenze angeht, teilweise außer Kraft zu setzen«. (Welt der Arbeit, 3.8.1973,43 London, 31.7.197344)
Außerdem unter Berufung auf das Interview Graberts45 gegenüber der »Berliner Morgenpost«, das den Missbrauch der Transitwege eingestehe, wieder »Durchsuchungen von Reisenden, von Transportmitteln und Gepäck sowie die Zurückweisung von Reisenden anzuwenden«. (Bayernkurier, 4.8.197346)